Goran Ferčec
Wunder
wird es hier
keine geben
Roman
Aus dem Kroatischen übersetzt
von Mascha Dabić
Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Interessengemeinschaft Übersetzerinnen Übersetzer (Literaturhaus Wien) im Auftrag des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport der Republik Österreich, das Goethe-Institut, die S. Fischer Stiftung, die Slowenische Buchagentur, das Ministerium für Kultur und Medien der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium für Kultur der Republik Albanien, das Ministerium für Kultur und Information der Republik Serbien, das Ministerium für Kultur Rumäniens, das Ministerium für Kultur von Montenegro, die Leipziger Buchmesse, das Ministerium für Kultur der Republik Nordmazedonien und das Ministerium für Kultur der Republik Bulgarien angehören.
Die Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel »Ovdje neće biti čuda« im Verlag Fraktura, Zagreb, erschienen.
© 2021 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
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Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com
unter Verwendung einer Zeichnung von Siniša Ilić
Lektorat: Jessica Beer
ISBN Print 978 3 7017 1740 8
eISBN eBook 978 3 7017 4653 8
Alle machten Lärm; aber dann passierte etwas, das niemand erwartet hatte.
F. M. Dostojewski: Die Dämonen
Da hatte er sich das eine gemeinproletarische Haus ausgedacht, anstelle der alten Stadt, wo auch heute die Menschen noch hof- und zaunweise lebten. In einem Jahr wird die ganze örtliche Klasse des Proletariats die Kleinbezirksstadt verlassen und fürs Leben das monumentale neue Haus beziehen.
Andrej Platonow: Die Baugrube
Mein Vater hatte einen Sohn, in den große Hoffnungen gesetzt wurden. Für solch große Hoffnungen ist eine kleine Sorge nicht genug. Und lasst uns nicht in unserer Enttäuschung auf tragische Weise unglücklich werden. Das ist es nicht wert.
Knut Hamsun: Auf überwachsenen Pfaden
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Bender denkt, er könnte alles, was passieren wird, auch falsch verstehen. Dann klingelt es. Bender macht ein paar Schritte, geht zur Tür und öffnet sie. Vor der Tür sieht er niemanden. Er steckt den Kopf durch die Tür und sucht mit Blicken den Flur ab. Die Lifttür schließt lautlos. Jemand ist in den Lift gestiegen. Bender macht einen Schritt aus der Wohnung. Der Mechanismus von Gewichten und Hebeln zieht einen Unbekannten hinunter. Bender spürt das Unbehagen einer Situation, in der die Positionen noch nicht klar definiert sind. Er bleibt vor der offenen Wohnungstür stehen und horcht auf Schritte, Stimmen und Geräusche, in denen er ein Zeichen zu finden hofft, dass all das hier auch ohne ihn so passieren würde. Er kann kein Zeichen finden, das ihn davon überzeugen könnte. Alles Weitere hängt nur von seiner Entscheidung ab. Wenn er in die Wohnung zurückgeht und die Tür hinter sich zumacht, wird der verfallene Flur, in dem der Stuck bröckelt, wieder leer und frei von Zeugen sein. Statt in die Wohnung zurückzukehren und die Situation zu beenden, schiebt Bender mit dem Fuß ein farbiges Flugblatt beiseite und rennt die Treppe hinunter, wobei er immer wieder mehrere Stufen überspringt. Mit der linken Hand hält er sich am Geländer fest, während er mit dem rechten Arm sein Gleichgewicht aufrechthält. Seine Absicht ist es, schneller als der Lift zu sein. Obwohl die Vertikale dafür sorgt, dass der Lift einen kürzeren Weg hat als der Mensch, ist Bender überzeugt, dass er noch vor dem Lift im Erdgeschoß ankommen wird. Bis zum dritten Stock sind es sieben Treppenläufe. Als er unten im Erdgeschoß ankommt, hat er das Gefühl, es waren weniger. Der Lift hält. Bender atmet ein. Die Spannung, in die er seinen eigenen Körper gebracht hat, erreicht einen Höhepunkt, als die Lifttür aufgeht und sich herausstellt, dass da niemand ist. Bender schaut auf sein Spiegelbild im Lift und springt hinein, eine Sekunde bevor die Tür wieder zugeht. Er drückt auf Nummer drei. Als sich die Lifttür wieder öffnet, befindet sich Bender in der Position, von der aus er gestartet ist. Er steigt aus dem Lift und steht vor seiner offenen Wohnungstür. Er könnte schwören, er hat die Tür zugemacht, bevor er sich auf die Jagd nach dem Unbekannten begeben hat. Er ertastet seinen Schlüssel in der Hosentasche. Mit der Hand stößt er die Tür weiter auf und betritt seine Wohnung. Alles sieht genauso aus wie vor ein paar Minuten. Zuerst schaut er hinter die Tür, in der Hoffnung, dass die Gefahr schon dort auf ihn warten wird. Hinter der Tür ist niemand. Er geht weiter durch die Wohnung wie durch eine soeben entdeckte Kolonie, die vom weißen Mann bedroht ist. Er überprüft jedes einzelne Zimmer, und bevor er beschließt, das Spiel zu beenden, ruft er mehrmals HALLO. Das Ausbleiben einer Antwort ermutigt ihn. Er geht zur Eingangstür und schließt sie, zieht sich die Schuhe aus und geht barfuß weiter. Seine Fußsohlen hinterlassen feuchte Flecken auf dem Boden und begleiten ihn bis in die Küche. Bender setzt sich an den Tisch. Die Küche ist voll von diffusen Stimmen, die durch das offene Fenster hereinkommen. Die Geräuschkulisse breitet sich in Wellen aus und trägt all das weg, was er bis jetzt für eine nicht zu hinterfragende Wahrheit gehalten hat. Aus der Küche ins Vorzimmer, aus dem Vorzimmer ins Zimmer, aus dem Zimmer wieder ins Vorzimmer, Wellen von Kinderstimmen, Hundegebell, Stimmen aus dem Radio, weinende Frauen, Geschirr, Schritte. Erneut hört er Schritte vor der Tür. Diesmal wartet er nicht, bis die Türglocke ihm wieder eine Überraschung bereitet, sondern steht auf und geht zur Wohnungstür. Von all dem, was fortgeschwemmt wurde, sind nur noch die Schritte im Stiegenhaus übriggeblieben. Diese Hartnäckigkeit bringt Bender zu der Überzeugung, dass es dieselben Schritte wie vorhin sein müssen, nur dass er sie zuvor nicht erwartet hat, während er jetzt bereit ist, sich mit ihnen zu konfrontieren. Eine metallische Männerstimme ertönt aus dem Lautsprecher des Radios in der Wohnung über Bender, fällt durch das offene Küchenfenster herein und bestimmt die exakte Stunde, Minute und Sekunde. Die genaue Uhrzeit holt Bender im Vorzimmer ein und bringt seine Absicht, sich unauffällig zu verhalten, ins Wanken. Bender hält mitten in einer Bewegung inne und wartet, dass die Stimme im Radio verstummt.
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