»Danke, Sie können jetzt reingehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Hans geht tatsächlich in die Box und der Mann will gar nicht wissen, was er dort zu tun gedenkt. Am Tresen empfängt ihn Jo. Lächelnd kommt er auf ihn zu.
»Und, wie hat es Ihnen bei uns gefallen?«
Der Mann schaut zu ihm. »Etwas aufdringlich fand ich alles.«
Jo freut sich. »Gern nehme ich auch Ihr negatives Feedback entgegen. Wenn ich Sie bitten darf, hierzu unseren Fragebogen zur Verbesserung der Kundenzufriedenheit auszufüllen? Es sind nur fünfzig Fragen und gerade Menschen wie Sie werden uns helfen, unseren Service in Zukunft noch besser auf die Bedürfnisse unserer Kunden abzustimmen.«
»Nein danke. Nehmen Sie ihren albernden Fragebogen und wischen Sie sich damit … «, der Mann stockt, »ach, vergessen Sie es einfach. Auf Wiedersehen.«
Gerade will der Mann sich an Jo vorbeipressen, als Hans von hinten kommt und ruft: »Jo, du musst den Mann aufhalten. Er muss noch nachzahlen.«
»Nachzahlen?«, entfährt es dem Mann.
Hans steht inzwischen vor ihm. »Ja, das müssen Sie. Unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen hängen am Eingang aus. Und danach sind in den Kosten von siebzig Cent nur fünfhundert Gramm Stuhl enthalten. Und bei Ihnen hat unsere integrierte Waage mehr gemessen.« Dann schaut er ihn durchdringend an: »Deutlich mehr!«
Jo schüttelt seinen Kopf. Der Mann schweigt. Dann presst er sich an Jo und Hans vorbei, rennt zum Ausgang, immer weiter bis zu seinem Auto, startet es und rast davon. Auf der Autobahn versucht er alles zu verarbeiten, doch es gelingt ihm nicht. An der nächsten Raststätte fährt er ab, um einen Kaffee zu trinken. Er parkt das Auto, geht zum Restaurant und öffnet die Tür.
Eine junge Frau tritt ihm entgegen. »Willkommen bei Tank und Rast. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Um ihre Zeit bei uns so angenehm wie möglich … «
Dem Mann wird schwarz vor Augen und er fällt.
Das war es also. Alexander stand vor einer Tür und er hatte das unangenehme Gefühl zu wissen, was ihn dahinter erwarten würde. In den Vorstellungen der Menschen war alles viel schöner und erhabener. In Wirklichkeit aber schien es eher wie der Gang in einer Behörde, auf dem er vor dem Zimmer mit der Zuständigkeit für die Buchstaben K bis M stand. Langsam öffnete sich die Tür und hinter einem Schreibtisch konnte er einen Mann in seinem Alter sehen.
»Aha, der Alexander Martin. Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Der Mann war sehr freundlich zu ihm. Gab ihm die Hand zur Begrüßung, lächelte. Obwohl es um ihn herum tatsächlich wie in einem Amt aussah. Er blätterte ein paar seiner Papiere durch. Geburtsurkunde, Personalausweis, ja sogar eine Kopie seines Totenscheins konnte Alexander erkennen.
»Und«, hob der Mann die Stimme von Neuem, »wie hat es Ihnen dort gefallen?«
»Eigentlich ganz gut«, antwortete Alexander ehrlich, wobei ihm seine Antwort ein mulmiges Gefühl im Bauchraum bereitete.
»Eigentlich oder ganz gut?«, bohrte der Mann nach.
»Ein paar Sachen hätten schon besser sein können«, überlegte Alexander laut.
»Zum Beispiel?« Der Mann hatte einen Stift zur Hand genommen und machte sich Notizen.
»Ich wäre gern ein paar Zentimeter größer gewesen. Und schöner.«
Der Mann kritzelte etwas auf seinen Block und schaute zu Alexander.
»Das müssen Sie bei Ihren Eltern einklagen, nicht bei mir. Noch etwas? Ein paar andere Mängel?«
»Dann eben Erfolg, Geld und Glück. Hatte ich alles nicht«, antwortete Alexander, nun fast traurig.
Der Mann schaute auf seine Aufzeichnungen, dann zu Alexander. Er runzelte die Stirn.
»Nun. Das hätten Sie jederzeit haben können. Es lag in Ihren Händen. Sie wollten bloß nicht.«
»Wollte ich wohl!«, entfuhr es Alexander wie einem trotzigen Kind und er bemerkte seine Überreaktion sofort. Kleinlaut fügte er hinzu: »Entschuldigung.«
Der Mann grinste und blieb ganz ruhig. »Glauben Sie mir. Ich habe Sie beobachtet. Wir beobachten alle. Monate, Jahre habe ich nach Ihnen geschaut. Immer wieder gehofft, bis es mir zu langweilig wurde. Sie wollten nicht.«
Alexander überlegte kurz, ob er etwas entgegnen und diesem Schreibtischtäter ein paar Notwendigkeiten und Zwänge aus dem wirklichen Leben darlegen sollte. Aber zum einen war er sich nicht sicher, was der Mann alles über ihn wusste, und zum anderen gab es an diesem Ort sowieso keine Wirklichkeit mehr. Und das Leben, das er kannte, wahrscheinlich auch nicht.
Der Mann sagte: »Wir wissen alles über Sie. Wie oft Sie krank waren, wie oft Sie gelogen haben, ja sogar, wie oft Sie Sex hatten.«
»Oh ja, tatsächlich?? War es oft, also vergleichsweise?«
»Ich werde mir meinen Wetteinsatz nachher bei meinen Kollegen abholen. Jeder Idiot stellt diese Frage, wirklich jeder. Was sagt Ihnen diese Zahl denn am Ende? Und was bringt Ihnen ein Vergleich? Seien Sie doch einfach froh, dass Sie überhaupt Sex hatten.«
So hatte es Alexander noch gar nicht gesehen. Froh machte ihn es dennoch nicht. Der Mann schrieb und schrieb. Eine scheinbar endlos lange Pause entstand. Alexanders Handflächen begannen zu schwitzen, ihm wurde mal heiß, mal kalt und in seinem Bauch machte sich dieses nicht definierbare Gefühl des Unwohlseins breit. Es wurde Zeit zu handeln.
»Sagen Sie, jetzt, wo es vorbei ist, was passiert nun mit mir?«
Der Mann schrieb weiter und antwortete ihm beiläufig: »In Ihrem Fall dasselbe wie in Ihrem Leben die meiste Zeit. Nichts.«
»Wie, nichts?«
Nun hörte der Mann mit dem Schreiben auf.
»Na nichts! Alexander Martin, jetzt hören Sie mir einfach einmal einen Moment lang zu. Sie Menschen bringen ihr verfluchtes Leben jeden Tag so gut es eben geht hinter sich. Die meisten sehnen sich schon während eines mehr oder minder frei gewählten Berufs danach, irgendwann in den Ruhestand zu gehen, um dann endlich anzufangen mit dem Leben. Sie ertragen ihre selbst gewählte Erbärmlichkeit mehr schlecht und recht und dann kommen Sie zu mir und wollen Glückseligkeit?«
Der Mann schnaubte, atmete noch einmal tief ein und aus und schrieb weiter. Alexander sah ihn mit großen Augen an. »Aber was hätte ich denn tun können?«
»Jetzt meckern Sie mal nicht. Ich dachte, es hätte Ihnen ganz gut gefallen dort unten. Zumindest eigentlich.«
»Hat es ja auch. Eigentlich. Aber ein paar Dinge würde ich jetzt anders machen.« Alexander gefiel die Situation gar nicht. Es war schon bis hierher nicht das Gelbe vom Ei, und wenn er gewusst hätte, dass ihn hier das totale Nichts erwartet, wäre er doch lieber in die Kirche gegangen. Oder hätte sündiger gelebt.
»Dafür ist es jetzt zu spät. Ab jetzt ist Nichts und für die meisten ist das auf keinen Fall schlechter, als das Leben, das sie auf der Erde führten.«
Der Mann blickte von seinem Block auf und schaute zu Alexander. Über dessen Kopf konnte er die Fragezeichen sehen.
»Ihr ganz spezielles Problem war einfach nur, dass Sie sich nie getraut haben und immer wieder Schiss hatten. Statt auf die Einzigartigkeit Ihrer Ideen zu vertrauen und Ihren Idealen zu folgen, gingen Sie den Weg der Sicherheit. Sie folgten den Angepassten und kapitulierten wie die vielen Anderen in einer Welt der Möglichkeiten, weil Sie gar nicht wussten, was Sie eigentlich selbst wollten. Überhaupt ist das »eigentlich« eines Ihrer größeren Probleme. Und da es sich so ergab, haben Sie eben keinen besonderen, ja einzigartigen Moment selbst erschaffen, sondern lebten von den geborgten Augenblicken der anderen. Es waren schließlich bereits ausreichend viele da. Bloß fühlt sich Second Hand nicht so doll an wie eine selbst geschaffene Einmaligkeit.«
Er machte eine Pause. Dann holte er ein Formular aus einer Schreibtischschublade, legte es vor Alexander und reichte ihm einen Stift.
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