Eine Million, das sind tausend mal tausend – und dahinter steht jeweils ein einzelnes Schicksal. Ein Mensch, ein Geschöpf Gottes.
Vor allem Mädchen und Frauen werden tagtäglich wie Vieh verkauft und behandelt. Verängstigt müssen sie sich in ihr Schicksal beugen und oft ohne Lohn 16 Stunden täglich ihren „Herren“ gefügig sein. Sie werden ausgebeutet, geschlagen, missbraucht.
Dazu dürfen wir nicht schweigen!
Schon bevor der „Spiegel“ das Thema entdeckte und die Öffentlichkeit aufmerksam wurde, gab es Menschen, die diesen Skandal nicht hinnehmen wollten. Frauenrechtlerinnen wie die Journalistin Alice Schwarzer mit ihrer scharfen und pointierten Berichterstattung, oder die katholische Ordensfrau Lea Ackermann, die seit 30 Jahren mit ihrem in Kenia gegründeten Verein Solwodi auch in Deutschland aktiv ist.
Der Verein „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (GGMH) wurde als Bündnis gegründet, um verschiedene Initiativen in Deutschland und Europa zu vernetzen und damit in ihrem Kampf gegen Zwangsprostitution zu unterstützen.
Jedes der Mitglieder hat eine eigene Geschichte, die zu seinem Engagement geführt hat. Bei mir persönlich ist es eng mit der Heilsarmee verknüpft. Zwölf Jahre arbeitete ich als Offizier in dieser „Armee Gottes“.
In der Heilsarmee ist Menschenhandel ein Schwerpunktthema. William Booth, der Gründer, und sein Sohn Bramwell hatten bereits 1885 gemeinsam mit dem Journalisten William Stead eine erfolgreiche Presse-Kampagne („The Maiden Tribut“) lanciert, in deren Folge das Mindestalter von Prostituierten in Großbritannien von 13 auf 16 Jahre heraufgesetzt wurde.
Als ich 2009 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, hatte ich mir das Thema ebenfalls ganz oben auf die Agenda geschrieben.
In Thorsten Riewesell, dem Gründer von „jumpers“ (Jugend mit Perspektive e. V.), fand ich einen Mitstreiter. Wir luden zunächst einige uns bekannte Initiativen und Vereine, die mit Opfern von Menschenhandel arbeiten, zu einem Erfahrungsaustausch ein. Aus diesem ersten Treffen wurden regelmäßige Runde Tische, und ein Bündnis entstand: „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (GGMH), das sich 2013 als eingetragener Verein konstituierte. Seitdem ist die Zahl der Mitglieder und Partner kontinuierlich gewachsen. Das Bündnis ersetzt dabei nicht die Arbeit der einzelnen Mitglieder, sondern unterstützt und ergänzt diese.
GGMH verfolgt vier Ziele:
1 Öffentlichkeitsarbeit: Den Skandal Menschenhandel, insbesondere in der Form der Zwangsprostitution, durch Kampagnen und Publikationen sichtbar machen.
2 Prävention: Aufklärung in Herkunftsländern und Deutschland.
3 Opferhilfe und Opferschutz: Durch Unterstützung und Vernetzung der Mitglieds-Organisationen, die sich um Opfer kümmern.
4 Verbesserung der juristischen Rahmenbedingungen: Unterstützung von Maßnahmen, die die strafrechtliche Verfolgung von Menschenhändlern sowie Opferschutz und -entschädigung verbessern. Hierzu gehören auch politische Forderungen und Initiativen.
GGMH hat drei Magazine herausgebracht, in denen wir über Menschenhandel informieren. Im politischen Bereich haben wir Briefkampagnen initiiert. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das genutzt, um die Abgeordneten ihres Wahlkreises auf das Problem der Zwangsprostitution aufmerksam zu machen. Ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit des Vereins sind Veranstaltungen und Netzwerktreffen.
Mit diesem Buch bietet sich die Gelegenheit, das Thema „Menschenhandel in Deutschland“ noch breiter bekannt zu machen und zugleich die Arbeit von GGMH vorzustellen. Unser Dank gilt dem Brendow Verlag und Herrn Nicolas Koch für die Initiative zu diesem Buch.
In einigen Grundsatzartikeln werden das Ausmaß und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Menschenhandel dargestellt. Daneben kommen Betroffene zu Wort: Ihre Schicksale werden erzählt, anonym – aber erschütternd offen. Und dann stellen einige Mitglieder beispielhaft ihre Arbeit vor. Sei es als Streetworker mit einer Thermoskanne direkt auf der Straße, als Seelsorger mit einem offenen Ohr in einem Café, als Sozialpädagoge in einer Schutzwohnung – sie alle sind „Anwälte“ für die Rechte der misshandelten und missbrauchten Frauen.
Sie alle haben sich entschieden, nicht zu schweigen, sondern etwas gegen Menschenhandel zu tun.
Damit die Opfer nicht länger Opfer bleiben, sondern ihre Würde wiederentdecken: Als von Gott geschaffene Persönlichkeiten.
Als Christ bin ich überzeugt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Galater 6,1)
Frank Heinrich, MdB

DER LANGE WEG DER HOFFNUNG - ILANA
Sie steht jeden Abend an der gleichen Ecke neben dem Dönerladen. Ihre Kleidung ist erstaunlich unauffällig: eine blaue Röhrenjeans, schwarze Sneakers und eine schwarze, kurze Kunstlederjacke. Sie könnte eine ganz normale junge Frau sein. Doch es ist Mittwochabend, 22 Uhr, auf dem Berliner Straßenstrich. Sie steht hier und wartet. Ihr langes, schwarzes Haar fällt über die zierlichen Schultern und umrahmt ihr schmales Gesicht. Die großen, dunklen Augen schauen traurig in die Nacht. Ilana ist eine Romni aus einer großen bulgarischen Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie ist eine von vielen Töchtern Bulgariens, die ihren Körper hier, auf den Straßen der deutschen Hauptstadt, zum Verkauf anbietet, in der Hoffnung, mit dem bisschen Geld sich und der Familie ein besseres Leben ermöglichen zu können.
Jetzt hat sie uns erblickt, und ihr Gesicht hellt sich auf. Hastig drückt sie die Zigarette aus und wirft den Stummel in die Ecke. Mit einem freudigen Lächeln und offenen Armen werden wir begrüßt und erst einmal fest umarmt. Wenn man darüber nachdenkt, was diese Frauen auf der Straße für ein Leben führen, was sie schon alles erlebt und eingesteckt haben, dann erstaunt es immer wieder, wie sie so fröhlich lachen und so herzlich sein können. Seit zwei Jahren kennen wir Ilana und haben in der Zeit stückchenweise ihre Geschichte erzählt bekommen. Es hat über ein Jahr gedauert, bis sie langsam anfing, sich zu öffnen und Vertrauen zu fassen.
Im Wartezimmer des Gesundheitsamtes, während wir auf ihre Untersuchung bei der Frauenärztin warten, fängt sie das erste Mal an zu erzählen. Da sei was nicht in Ordnung in ihrem Bauch, in ihrer Gebärmutter. Vor zwei Jahren hätte sie eine Abtreibung gehabt. Sie sei dafür in Polen gewesen, und es sei nicht ordentlich gemacht worden. Jetzt hätte sie Angst, dass sie deswegen keine Kinder bekommen könne. Dabei ist alles, was sie sich wünscht, ein normales Leben: ein normaler Job, eine normale Beziehung und irgendwann Kinder. Die Angst vor Krankheiten, die Angst, dass ihr Job alles kaputtmachen könnte, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Immer wieder greift sie nervös nach meiner Hand und drückt sie ängstlich. Sie will raus: raus aus der Prostitution, raus aus dem Leben, das sie führt und das sie kaputtmacht. Die Ärztin kann nichts Schwerwiegendes finden, und doch halte ich am Ende eine bitter weinende Ilana in den Armen. Sie ist erschöpft und sieht keinen Weg aus ihrer Situation heraus. Von dem Tag an dürfen wir sie an der Hand nehmen und ihr Schritt für Schritt zeigen, dass es eine Zukunft für sie geben kann.
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