Der Tag, an dem ich versuchte, mich in den Sitz gequetscht anzuschnallen, und die Stewardess hochnäsig erklärte: „Massiv übergewichtige Menschen müssen eine Gurtverlängerung in Anspruch nehmen“, hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Die ehrlich gemeinte Feststellung eines Kleinkindes: „Das ist die dickste Frau auf der ganzen Welt“, und die absichtlich verletzenden Äußerungen von pubertierenden Jugendlichen, die mich mit Wörtern wie Nilpferd, Tonne und fette Sau beschimpften, tat ich mit vorgespieltem Selbstbewusstsein ab. Wildfremde Menschen erklärten mir auf der Straße, ich solle endlich abnehmen. Kleidungsgeschäfte mied ich ohnehin schon jahrzehntelang, denn wenn mir eine Verkäuferin mit hochgezogenen Augenbrauen erklärte, dass man für „eine wie mich“ ohnehin nichts im Sortiment hätte, war das jedes Mal wie ein Schlag in die Magengrube – falls man die denn unter der Fettschicht überhaupt erwischen würde. Gleichzeitig war aber der Übergrößenhandel auch der Meinung, dass dicke Menschen keinerlei Modebewusstsein oder Stil besitzen müssten und man diese mit Schmetterlingen oder Teddybären an schmuddeligen Shirts oder ebenso breiten wie langen Röcken, die die nicht vorhandenen Storchenfüße noch gezielter zur Geltung brachten, abfertigen könnte. Dies hat sich mittlerweile wesentlich verbessert, aber immer wieder stoße ich auch heute noch auf großgeschnittene Kleidungsstücke, bei denen der Designer bestimmt den unebenen Körper eines dicken Menschen mit all seinen „Stark-Stellen“ höchstens einmal aus der Ferne betrachtet hat.
Auch das Einkaufen hatte sich zu einem wahren Martyrium entwickelt, denn immer wieder fragten mich Leute, ob ich nicht besser Light Produkte oder fettarmen Käse kaufen möchte. In der Öffentlichkeit zu essen, davon hatte ich mich ebenfalls schon lange verabschiedet, denn des Öfteren musste ich beobachten, dass Leute die Augen verdrehten, wenn sie mich essen sahen. Einmal nahm ich im Supermarkt all meinen Mut zusammen und kaufte selbst eine 300-Gramm-Tafel Schokolade; normalerweise ließ ich meinen mit einem dünnen Körper gesegneten Mann Süßigkeiten kaufen. Eine ältere Frau kam schnurstracks zu mir gelaufen und fragte, ob ich denn glaubte, dass ich damit abnehmen könnte. In solchen Momenten fiel es mir immer immens schwer, stark zu bleiben. Wann hat es aufgehört, dass ich als Mensch und nicht als überdimensionales Wesen wahrgenommen wurde? Es gibt Menschen mit Übergewicht, genauso wie es Menschen mit Normal- und Untergewicht gibt, doch wer mehr wiegt, der wird diskriminiert, durch Hasskommentare, verächtliche Blicke und unangenehme Fragen. Das hat sich in all den Jahren sogar deutlich durch die sozialen Medien verstärkt und Mobbing, vor allem jenes unter Jugendlichen, hat dadurch eine ganz andere Dimension angenommen.
Doch so verletzend das Verhalten der Gesellschaft auch war, es konnte keine Kehrtwende in meinem Lebensstil herbeiführen. Im Gegenteil, wenn ich traurig oder überfordert war, versuchte ich dies durch ein Glas Nutella oder eine Familienpackung Eis wiedergutzumachen, und die logische Konsequenz daraus war, noch mehr zuzunehmen. Ich habe mich selbst aber nie als so dick betrachtet, wie ich tatsächlich war. Die Eigenbetrugsmaschine arbeitete hervorragend und ich erinnere mich an Selbstgespräche vor dem Spiegel, bei denen ich mir versicherte, dass es so schlimm nun wirklich nicht sei. Die Scheuklappen, die ich mir wohl als Bewältigungsstrategie angeeignet hatte, fielen erst Jahre später, als der verklärte Blick auf das „große Ganze“ verschwand und das wahre Ausmaß meines jahrzehntelangen ungesunden Lebensstils auch für mich sichtbar wurde, etwa auf Röntgenbildern, die mir die Knie einer 70-Jährigen bescheinigten, die viel zu lange viel zu viel Last zu tragen hatten.
Wirklich schwierig handzuhaben war die Erkenntnis, dass ich mit Mitte dreißig nur mehr Zuschauerin im Theaterstück meines eigenen Lebens war. Die Kinder mussten alleine im Garten herumtollen und von gesellschaftlichen Gruppenveranstaltungen zog ich mich bewusst zurück, denn zu hoch war die Wahrscheinlichkeit, bei einem Aktivprogramm nur am Spielrand sitzen zu können. Mittlerweile kannte ich selbst kaum mehr jemanden, der noch mehr Kilos auf die Waage brachte als ich, denn selbst in meiner von dickmachenden Genen hervorragend beglückten Familie war ich nun die unbestrittene Nummer eins.
Einzig in den Vereinigten Staaten fühlte ich mich immer wohl. Dort war ich unter meinesgleichen und vieles war auf übergewichtige Menschen ausgelegt. Die Sitze waren extrabreit, in den Toiletten konnte man sich einmal um die eigene Achse drehen, ohne irgendwo anzustoßen, und niemand nahm auch nur Notiz von mir, wenn ich mir den zweiten oder dritten Nachschub beim Frühstücksbuffet holte. Witzigerweise entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Wandern in den USA, denn die zahlreichen, traumhaft schönen Nationalparks konnte man nicht unbewandert zurücklassen. Bei den ersten beiden Besuchen allerdings bestand das Entdecken der Natur eher aus einem Viewpoint-Hopping, das heißt, wir fuhren von einem Aussichtspunkt zum nächsten und gingen höchstens 200 Meter in die eine und 200 Meter in die andere Richtung. 2007 allerdings wollte ich etwas ganz Besonderes machen. In den Coyote Butts der Paria Canyon-Vermilion Cliffs Wilderness ist an der Grenze zwischen Utah und Arizona die einzigartige „Wave“ zu finden, eine besonders sensible Sandsteinformation, die täglich nur zwanzig Besucher betreten dürfen. Damals wurden online im Vorfeld zehn Permits, also Zugangsberechtigungen, vergeben und wir hatten das unglaubliche Glück, vier Stück zu ergattern, also nichts wie hin. Diese Wanderung würde als die allerschlimmste in die Dani-Geschichte eingehen. Mit über 140 Kilo bei 46° C zu wandern, ist eine unglaubliche Kraftanstrengung, und ich wundere mich heute noch, was mein Körper damals im Stande war zu leisten. Die Sonne brannte auf uns nieder und der kurze, sandige Aufstieg nach etwa fünf Kilometern war das anstrengendste, das ich je getan hatte. Auf allen vieren kraxelte ich in das Tal der Wave und suchte mir die erste flache Stelle als meine letzte Ruhestätte aus. Während Peter und die Kinder begeistert von all der Schönheit waren und jeden einzelnen Zentimeter erkundeten und auf Fotos festhielten, versuchte ich, irgendwie meine Lebensgeister zurückzugewinnen und wieder annähernd regelmäßig zu atmen. Es war mir nicht möglich, dieses wunderbare Naturschauspiel mit meinen Lieben zu teilen, denn ich hatte massive körperliche Probleme und die schlimme Vorahnung, dass sich der Rückweg mindestens ebenso anstrengend gestalten würde. Dies bestätigte sich auch kurz darauf und etwa einen Kilometer vor dem Ziel war ich mit meiner Kraft am Ende. Jeder Schritt tat weh, ich wollte mich in dem heißen Sand zur Ruhe betten und bot den anderen an, mich hier zurückzulassen. Irgendwie schafften diese es aber, mich zu motivieren, auch noch die letzten Schritte zu gehen, doch sobald klar war, dass Peter mich von der Stelle, an der ich mich befand, mit dem Auto abholen konnte, bewegten sich meine Füße keinen Zentimeter mehr. Es war mir unmöglich, die fünfzig Meter zwischen Parkeingang und Auto zu bewältigen, so gerne ich es auch gewollt hätte. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich derart leer gefühlt wie genau in diesem Augenblick. – Obwohl ich auch am South West Coast Path an meine Grenzen stoßen werde, werde ich mich kein einziges Mal so fühlen wie damals in den Coyote Buttes. – Allerdings sollte es trotz dieses unmenschlichen Ereignisses, das mir meine körperlichen Unzulänglichkeiten klar vor Augen führte, noch zweieinhalb weitere Jahre und unzählige gescheiterte Diätversuche dauern, bis es endlich doch gelingen sollte, mich von meinem massiven Übergewicht zu befreien.
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