„Die Priester vor so vielen Jahren
waren, als wie sie immer waren.
Und wie ein jeder wird zuletzt,
wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt. …
Wird er hernach in Mantel und Kragen
in seinem Sessel sich wohlbehagen.
Und ich schwöre bei meinem Leben,
hätte man Sankt Paulen ein Bistum geben:
Polt’rer wär’ worden ein fauler Bauch,
wie coeteri confratres auch.“
Natürlich hatte Bustamante dieses Goethe-Gedicht nicht selbst im Werk des großen deutschen Klassikers gefunden – so gut Deutsch konnte er auch wieder nicht –, er hatte es vielmehr zufällig im Buch eines älteren deutschen Theologen entdeckt und sich daraus abgeschrieben.
Zu Hause angelangt, reichte es vor Dienstschluss zeitlich gerade noch für drei Telefongespräche. Das erste ging an seine vorgesetzte Dienststelle im Justizministerium. Diese hatte die römische Kriminalpolizei darüber zu informieren, dass nunmehr „sein Ufficio“ sowohl die Mord- wie die gegebenenfalls damit verbundenen Missbrauchsfälle übernehmen würde. Im zweiten Anruf bat er den Leiter der römischen Mordkommission dringend darum, ihm Filippo Giollini „auszuleihen“. Fil – wie er genannt wurde – war früher zusammen mit seiner jetzigen Frau Carla als Commissario an der Dienststelle Bustamantes beschäftigt gewesen, war dann aber, weil hier wie überall, Stellen gestrichen wurden, zur „normalen“ römischen Sezione der Kripo übergewechselt, half jedoch immer mal wieder, wenn nötig, aus. Auch diesmal wurde Bustamante die Bitte um Fil erfüllt. Der dritte Anruf ging an seine Sekretärin Rosalinda, die für morgen früh um 9 Uhr das ganze Team einberufen sollte.
Den Rest des Abends verbrachte Bu-Bu zunächst damit, sich nach längerer Zeit mal wieder das zum Abendessen zu bereiten, worauf er unbändigen Appetit hatte: Als sättigende Antipasta gab es einige Scheiben Bruschetta zusammen mit ganz, ganz fein geschnittenem und erstklassigem Olivenöl zubereiteten Tomatensalat. Für den Hauptgang hatte er Zucchiniblüten eingekauft, die er in einen mit nur wenig Mehl verrührten Omelett-Teig tauchte und anschließend frittierte. Dazu aß er eine nur etwa drei bis vier Millimeter dicke Scheibe „Provolone“ (Käse), die nur äußerst leicht angebraten wurde, gerade so lange, bis sie zu fließen begann. Aber nur begann! Köstlich! Zum Trinken gab es Frascati Superiore DOC von einer Qualität, die man nur im Direktkauf von Winzern erhält, die einem gut Freund sind.
Nach dem Essen schmökerte er noch ein wenig in neuester Literatur zum Thema Pädophilie herum, steckte in Gedanken die nächsten taktischen Schritte ab und schäkerte dazwischen immer wieder mit Meister Jakob herum, der sich jeden Abend neu über eine Portion Zuwendung und Zärtlichkeit freute, diese aber auch stets ungeduldig zu erwarten schien.
Da Bustamante damit rechnete, angesichts der neuen Fälle eine stressige Zeit vor sich zu haben, setzte er sich zum Tagesabschluss an seine sehr, sehr kleine elektronische Hausorgel und improvisierte meditierend und träumend ein wenig vor sich hin. Plötzlich merkte er, dass er ganz unbewusst nach einem gebrochenen g-moll-Akkord in den Anfang der Kleinen Fuge in g-moll von Johann Sebastian Bach (BWV 578), eines seiner Lieblingsstücke, geraten war. Ihr Thema:
Diese Fuge war für ihn eines der Meisterwerke dieses gewaltigen deutschen Komponisten. Denn sie war schon rein formal in ihrer äußersten Strenge perfekt gearbeitet, ähnlich den Stücken aus der „Kunst der Fuge“, so dass sie als Musterbeispiel für die musikalische Form der Fuge überhaupt und als Lehrstück für Kompositionsschüler dienen konnte. Aber da war noch viel mehr: Diese Fuge war nicht „klein“, wie Bach sie allein aufgrund ihres geringen Umfangs bezeichnet hatte, sie war in ihrer Qualität „riesengroß“. Man konnte sie einerseits spielen und hören wie einen hübschen und gefälligen „Ohrenschmaus“, und es gab nicht wenige Organisten, die sie wie ein Salonstück präsentierten. Andererseits aber und mit viel größerem Recht konnte man sie spielen und hören wie einen gewaltigen „Mikrokosmos“ oder ein musikalisches „Welttheater“, in welchem sich das Drama menschlichen Lebens abspielt: Im gebrochenen g-moll-Akkord des Anfangs mit der selbstsicher aufsteigenden Quinte stellt sich gewissermaßen das selbstbewusste Subjekt, wie es sich in der Neuzeit herausgebildet hat, mit einem entschiedenen „Hier bin ich!“ dar, nimmt sich dann aber immer mehr zurück, um den später einsetzenden Stimmen Platz zu machen, ihnen nur noch als Begleitung zu dienen und schließlich fast ganz zu verschwinden oder besser: sich mit den anderen Stimmen zu vereinen und sich in einer Art „versöhnter Verschiedenheit“ ganz mit ihnen zu integrieren. Aufstieg und Niedergang, Aufbruch und Zwischenhalt, In-Besitz-Nehmen und Lassen-Können, Ich-Sein und Mit-andern-Sein – das waren für Bu-Bu die „geistigen Koordinaten“ dieses Stücks, das ihn stets neu faszinierte und in seinen Bann schlug.
So setzte Bu-Bu den Anfang der Fuge, in den er dahinträumend völlig unbewusst geraten war – die aufstrebende, selbstsichere Quinte des gebrochenen g-moll Akkords –, ganz bewusst fort und spielte das Stück bis zum Ende. Eine herrliche Fuge! War das nun ein gutes Omen für die vor ihm liegende Arbeit?
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