Die Folge: Renationalisierung der Staaten
Die Folge sind erstens Geltungskonflikte zwischen verschiedenen Rechtsregeln, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, sowie Konflikte zwischen nationalen und internationalen Gerichten darüber, wer jeweils zuständig ist. Mangels eindeutiger Hierarchien, selbst in der am stärksten integrierten EU, sind diese Konflikte auf rechtlichem Wege nicht durchweg auflösbar. Nicht selten führt das zu Überfremdungsgefühlen in der Bevölkerung und gibt den Tendenzen zur Renationalisierung Nahrung, die inzwischen viele Staaten erfasst haben. Die Bereitschaft zur Befolgung und Durchsetzung von Recht aus fremden Quellen und Urteilen supranationaler Gerichte leidet darunter. Bei anhaltender Globalisierung steigt die Notwendigkeit, Recht weiter zu internationalisieren, während sich die Bedingungen dafür verschlechtern.
Das verweist bereits auf das zweite und größere Problem, nämlich die Legitimation der supranational ausgeübten öffentlichen Gewalt. Supranationale Organisationen leiten ihre Legitimation von den Staaten ab, die sie gegründet und nach Maßgabe ihrer Verfassungen mit öffentlicher Gewalt ausgestattet haben. Einmal übertragen, wird sie aber nicht mehr nach den Maßgaben der nationalen Verfassungen ausgeübt, sondern gemäß den Statuten dieser Organisationen, die jedoch hinter dem Anspruch nationaler Verfassungen weit zurückbleiben. Die Organisationen sind in der Regel weder an demokratischen Grundsätzen ausgerichtet noch, mit Ausnahme der EU, den Menschenrechten unterworfen, nicht einmal diejenigen, die den Menschenrechtsschutz zum Ziel haben.
Umgekehrt verkürzt jede Abgabe von Hoheitsrechten den Handlungsspielraum einer staatlichen Demokratie. Für die Wahrnehmung abgetretener Hoheitsrechte spielen die nationalen demokratischen Prozesse keine Rolle, die nationalen Regierungen lassen sich dafür nicht verantwortlich machen, Wahlen bleiben insoweit folgenlos. Der Verlust kann aber auch nicht einfach durch Übertragung der nationalen Demokratieanforderungen auf die supranationale Ebene kompensiert werden. Das demokratische Legitimationsniveau, das im Staat immerhin möglich ist, lässt sich auf der internationalen Ebene nicht erreichen. Dem Staat müssen daher genügend eigene Handlungsfelder erhalten bleiben, damit die Politik nicht weithin vom Bürgereinfluss entkoppelt wird.
Halten wir darum fest: Noch ist der Staat unentbehrlich.
Wider die Allmacht:Föderalismus als Gegenbewegung
José Luis Villacañas Berlanga
Im Verlauf seiner Geschichte hat der Staat ganz verschiedene Funktionen erfüllt, und aufgrund dieser Wandlungsfähigkeit ist es ihm gelungen zu überleben. So gehörte etwa estado , das spanische Wort für Staat, zu einem Sprachspiel, in dem es um die Bewahrung der Besitzaufteilung zwischen den sozialen Ständen der vormodernen Zeit ging. Die Güter von Monarchen, Feudalerben, Städten, Klöstern oder Diözesen sollten jeweiligen Ausgangszuständen ( estados ) entsprechen, von denen sie sich herleiteten.
Doch neben solchen Stabilitätsversprechen hat der Staat bald über Verdichtung, Akkumulation und Beschleunigung auch Prozesse des Strukturwandels befördert. Das von den Monarchen auf den Staat übertragene Konzept der Souveränität bezog sich dabei auf eine Machtdynamik, die ihren maximalen Anspruch in der Formel vom »Ausnahmezustand« formulierte, bürokratische Systeme hervorbrachte und Institutionen zur Disziplinierung der Untertanen ausbildete. All diese Entwicklungen hatten sich bereits vor den bürgerlichen Revolutionen vollzogen, die dann die staatlichen Machtstrukturen weiter ausbauten und im Nationalstaat als einer neuen politischen Form zusammenfassten, die immer häufiger in die Gesellschaft eingriff. Anstelle der Religion war der Staat nun zum übergeordneten Hirten und zum Regenten über das gesamte Leben geworden.
Erst der Nationalstaat räumte sich selbst als Souverän einen kategorial übergeordneten Status ein. Mit der These, dass im Staat seiner Zeit der Weltgeist zu sich komme, wurde Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zum Meisterdenker dieser Faszination. Von ihr beflügelt, bildeten sich während des 19.Jahrhunderts institutionelle Formen im Zusammenhang mit dem Staat heraus, die der Imperialismus bald über den gesamten Planeten verbreiteten sollte, nämlich die Verkoppelungen des Staats: mit den Industriekomplexen des Kapitalismus; mit kulturellen Konstellationen, aus denen Ideologien hervorgingen; mit neuen symbolischen Hierarchien; und natürlich auch mit den Traditionen und Instrumenten des Militärs.
So kann man jene Phase der Geschichte für die meisten europäischen Länder als einen Prozess auffassen, in dem immer mehr Instanzen der sich ausdehnenden Nationalstaaten ihre Völker inneren Rationalitätsansprüchen unterwarfen. Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings schwand (wohl unter dem Eindruck ideologisch-totalitärer Staaten) zunächst bei den Intellektuellen, dann aber auch bei Politikern jene klassische Staatsbegeisterung und wich einer Ernüchterung, die vielfältige Kritiken motivierte. Die expansive Epoche des souveränen Staats war abgelaufen, doch über drei verschiedene Problemkonfigurationen ist er in unserer Gegenwart weiter präsent geblieben.
Nationalstaat und Weltwirtschaft
Will man erstens auch davon ausgehen, dass entscheidende Steuerungsfunktionen für das menschliche Leben mittlerweile auf die Weltwirtschaft übergegangen sind, so hat sich doch erwiesen, dass deren Institutionen und Entwicklungen weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit den Nationalstaaten angewiesen sind. Die Deregulierung der Finanzsysteme, die industrielle Globalisierung, die Abschaffung von Schutzzöllen, die Autonomisierung der international dominierenden Banken: All dies sind Bewegungen, die von einer Unterstützung durch die traditionelle Autorität und Legitimität der Staaten abhängen.
In diesem Zusammenhang stoßen wir auf eine spezifische Spannung der Gegenwart: Einerseits wird der Staat aufgrund seiner verbleibenden Funktionen zu einem Instrument der internationalen Wirtschaft. Andererseits ist das politische Potenzial des Staats (vor allem in Europa) mit einem Versprechen sozialer Wohlfahrt verbunden, auf dessen Einlösung die Bürger bestehen. Das heißt: Sie klagen Leistungen von ihren Staaten ein, zu deren Erfüllung diese aufgrund ihrer Funktionen als Instrument der internationalen Wirtschaft nicht ohne weiteres imstande sind. Schärfer und als Paradox formuliert: Der Staat scheitert heute an der Herausforderung, uns als Wohlfahrtsstaat vor Effekten der Wirtschaft zu schützen, die er als Nationalstaat selbst mit ausgelöst hat.
Kapitalismus und demokratischer Staat
Die zweite Problemkonstellation des Staats von heute hat mit der Tatsache zu tun, dass aus historischen Gründen Formen des demokratischen Lebens, die wir nicht aufgeben wollen, an seine Struktur gebunden sind. Bis vor wenigen Jahrzehnten vertraute man darauf, dass der Kapitalismus im staatlichen Rahmen immer eine solche demokratische Praxis entstehen lassen und bewahren würde. Dass diese Affinität zwischen Kapitalismus und demokratischer Politik als vermeintlich notwendige nicht existiert, belegt die mit großer Effizienz funktionierende Kombination von Diktatur und Kapitalismus in der Volksrepublik China.
Andernorts beobachten wir Verflechtungen von kapitalistischer Wirtschaft mit neuen Intensitätsgraden persönlicher Macht. Sollte Carl Schmitt (1888–1985) dies verstanden und vorweggenommen haben, als er am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung von 1933 »eine gesunde Wirtschaft in einem starken Staat« forderte? Trotz seiner Allianz mit dem Dritten Reich genießt Schmitts Denken heute bei Politikern und Intellektuellen sowohl der Rechten wie der Linken besonderes Ansehen, weil beide Seiten – aus ganz verschiedenen Gründen – mit ihm auf einen sich unbegrenzt ausdehnenden Staat setzen: sowohl zur Stärkung nationaler Autonomie als auch zur Ermöglichung unbegrenzter Sozialleistungen.
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