„Das Erinnerungsvermögen freilich ist of genug vage und wird von Irrtümern (Zuordnung des Erinnerten an die Kategorien Ort und Zeit) getrübt. Deshalb können Bilder, vor allem aber Videos wegen ihrer mechanisch hergestellten sequenziellen Bildaussage häufiger dokumentarischen Charakter erlangen, sofern die reale Authentizität die Aufnahmesituation (Standort, Zeit, Beteiligte) nachgewiesen ist. In solchen Fällen besitzen sie mitunter eine erhöhte informationelle Bedeutung. Sie vermitteln mittels der subjektiven Kameraperspektive des beobachtenden Zeugen, wie sich Dinge (aus Sicht genau dieser Perspektive) im chronologischen Nacheinander zugetragen haben.“ (Haller 2008a, S. 272)
Um spezifische Ereignisse als Erinnerung und Beweismittel zu dokumentieren, können Screenshots von Livestreams, Chatverläufen und Onlinepostings in den sozialen Medien festgehalten werden (vgl. Frosh 2019). Gleichwohl können derartige Aufnahmen verändert und manipuliert werden.
„Während die Wortnachricht erst durch den ‚Verdauungstrakt’ der kognitiven Informationsverarbeitung gehen muß, nehmen wir Bildnachrichten gleich intravenös auf.“ (Schulz 1996, S. 6)
Die aktuelle Medienrezeption ist zumindest bei den älteren Zuschauern nach wie vor durch das Fernsehen geprägt, dessen Programm oftmals über einen bildorientierten und unterhaltsamen Medienstil verfügt. Gleichwohl werden Bilder nicht mehr ausschließlich über das lineare Fernsehen in Echtzeit rezipiert, sondern zeitversetzt über weitere mobile Endgeräte mit einem digitalen Zugang. Soziale Bildnetzwerke wie die Foto-Sharing-Plattform Instagram sprechen ein breites Spektrum an Nutzern an, die visuelle Inhalte einstellen, anklicken und teilen. Die Gruppe der jugendlichen Rezipienten im Alter von zwölf bis 19 Jahren konzentriert sich primär auf die Internetangebote. Einer repräsentativen Befragung von mehr als 1.000 Personen dieser Zielgruppe im Rahmen der JIM-Studie 2020 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2020) zufolge steht YouTube mit 57 % auf dem ersten Platz. Den zweiten Platz belegt Whats-App (31 %) vor Netflix (16 %) und Google (14 %).
Visuelle Wahrnehmungen können Zusammenhänge leichter fassbar machen. Sie bleiben länger im Gedächtnis haften als gesprochene oder geschriebene Worte. Es entsteht der Eindruck, dass Bilder einen authentischen Ausschnitt der Wirklichkeit wiedergeben, obwohl die Auswahl der Bilder, die Perspektive des Betrachters und die Schnittfolge dazu beitragen, Bearbeitungen zu ermöglichen (vgl. Forster 2003, Grittmann 2003, Schicha 2003 und 2013b, Godulla 2014, Krämer 2019).
Aus einer normativen Perspektive gilt die hohe Glaubwürdigkeit von Bildern bisweilen als problematisch, da bildliche Informationen weit weniger kritisch rezipiert werden als vergleichbare sprachliche Informationen. Es wird bemängelt, dass durch die visuelle Kommunikation keine Argumentationskette herausgebildet wird. So argumentiert Röll (1998, S. 44):
„Wahrnehmungsformen und Kommunikationsgewohnheiten werden zunehmend von der Logik der bildgeprägten Information und Unterhaltung bestimmt. Da der Eindruck und nicht das Argument zählt, wird logisch kausales Denken in den Hintergrund gedrängt. Bildliche (Schein-)Welten treten an die Stelle der interessegeleiteten Weltbilder des diskursiven Zeitalters.“
Dieser Auffassung folgt Leif (2001, S. 9) ebenfalls: „(Inszenierte) Bilder, gut gestylte Stimmungen und überlegt eingesetzte Emotionen verdrängen immer mehr die Argumente oder den redlichen intellektuellen Austausch.“ Die Wahrnehmung wird durch die visuellen Sinneseindrücke beherrscht,
„[…] nicht die Sprache oder das Denken. Geschichte und Zusammenhänge, Erörterungen, Differenzierungen und Begründungen langweilen eher, erscheinen als unbestimmt und problematisch. Sie lenken ab, verscherzen Aufmerksamkeit, vergraulen das Publikum, verderben das Geschäft. Sie passen nicht zum Bildmedium und seinen Möglichkeiten.“ (Meyer 1995, S. 55)
Insgesamt wird der sprachliche Argumentationsstil durch einen bildlichen ergänzt, und die Bilder besitzen nicht mehr nur die Funktion, Sprache oder Texte zu ergänzen oder zu illustrieren. Faktisch werden zentrale Informationen und Emotionen über Bilder transportiert, die unterschiedliche Wirkungen bei den Betrachtern auslösen können.
Es ist Kroeber-Riel (1993) zufolge davon auszugehen, dass immer mehr Menschen Bildeindrücke zur Grundlage ihrer Überzeugungen machen und die Bildkommunikation einen entscheidenden Beitrag leistet, das Verhalten zu beeinflussen. Einerseits wird Bildern die Eigenschaft zugeschrieben, eine wahrheitsgetreue Abbildung der Wirklichkeit zu bewerkstelligen. Anderseits bestehen Möglichkeiten, Bilder zu inszenieren, zu bearbeiten und zu manipulieren. Dennoch wirkt die bildliche Darstellung in der Regel realistisch. Es gelingt ihr bisweilen stärker, eine emotionale Regung zu erzeugen, als die verbale Codierung von Informationen.
Eine eindimensionale Wirkungsdimension kann bei der Medienrezeption grundsätzlich nicht vorausgesetzt werden. Hall (1980) hat in seinem encoding/decoding-Modell aufgezeigt, dass die Vermittlung von Informationen im Rahmen der Massenkommunikation keinen transparenten Prozess im Verständnis eines stabilen Senders/Empfänger-Modells darstellt. Hall differenziert zwischen drei unterschiedlichen Lesarten eines medialen Produktes:
Bei der Vorzugslesart (dominant-hegemonic position) wird der durch den Text und die Bilder strukturierte und begrenzte Interpretationsspielraum vom Rezipienten weitestgehend übernommen. Insofern erfolgt hier eine Zustimmung hinsichtlich der vorgelegten Inhalte.
Bei der ausgehandelten Lesart (negotiated position) werden die in einem Beitrag dominierenden Ereignisse von den Rezipienten zwar akzeptiert, jedoch in den eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont und weitergehende Zusammenhänge eingeordnet. Die kodierte Bedeutung wird nicht einfach übernommen, sondern mit den subjektiven Hintergründen und Erfahrungshorizonten assoziiert. Es liegt demzufolge eine kritischere Haltung als bei der Vorzugslesart vor.
Bei der oppositionellen Lesart (oppositional code) werden die dargestellten Informationen rundweg abgelehnt und in einem alternativen Bezugsrahmen interpretiert (vgl. weiterführend Winter 1999, Lobinger 2012, Schicha 2021b).
Es wird in diesem Verständnis von einem produktiven Zuschauer (vgl. Winter 2010) ausgegangen, der über eigene Wertmaßstäbe bei der Beurteilung von Medieninhalten verfügt. Diese Vorstellung basiert auf der Modellvorstellung eines aktiven Publikums, das die Botschaft für sich selbst autonom interpretiert und bewertet (vgl. Machart 2008). Dies gilt weiterhin bei der Interpretation von Bildinhalten:
„Die optische Wahrnehmung, das Paradigma des Betrachters auratischer Werke, erfolgt durch thematische Aufmerksamkeit und Kontemplation, Einstellungen, in denen sich der Betrachter sammeln kann und einbringen muss. Seine eigenen Erfahrungen und Wertvorstellungen wie auch seine momentane Befindlichkeit werden mit dem Geschehen abgeglichen. Während der Rezeption bezieht der Betrachter sozusagen permanent und interpretierend Stellung zum Werk.“ (Fischer 2006, S. 201)
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