Selma Lagerlöf
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961920-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020565-0
www.reclam.de
Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Ich weiß nicht einmal, ob ich seitdem einen größeren erlebt habe.
Das war, als meine Großmutter starb. Bis dahin hatte sie jeden Tag im Ohrensessel in ihrem Zimmer gesessen und Geschichten erzählt.
Ich kann mich an nichts anderes erinnern, als dass Großmutter dort saß und erzählte und erzählte – von morgens bis abends. Und dass wir Kinder still neben ihr saßen und ihr zuhörten. Das war ein herrliches Leben. Niemand sonst hatte es so schön wie wir.
Ich erinnere mich nicht an sehr viel von meiner Großmutter. Ich weiß noch, dass sie schönes, kreideweißes Haar hatte und dass sie sehr krumm lief und dass sie immer dasaß und an einem Strumpf strickte. Und ich erinnere mich auch daran, dass sie mir, wenn sie eine Geschichte erzählt hatte, die Hand auf mein Haar legte und sagte: »Und das alles ist so wahr, wie ich dich sehe und du mich.«
Ich kann mich auch erinnern, dass sie Lieder singen konnte, auch wenn sie das nicht jeden Tag tat. Eines dieser Lieder handelte von einem Ritter und einer Wassernymphe, und der Refrain ging so: »Es bläst ein kalter Wind, kalter Wind übers Wasser.«
Und ich erinnere mich an ein kleines Gebet, das Großmutter mir beibrachte, und an einen Bibelvers aus einem Choral.
An all die Geschichten, die sie mir erzählt hat, habe ich nur eine schwache und verschwommene Erinnerung. Da ist nur diese eine, an die ich mich so gut erinnere, dass ich sie selbst erzählen könnte: Das ist die kurze Geschichte von Jesu Geburt.
Seht, das ist beinahe schon alles, woran ich mich bei Großmutter erinnere – bis auf meine allerstärkste Erinnerung: die große Sehnsucht nach ihr, als sie fort war.
Ich erinnere mich an den Morgen, an dem der Ohrensessel plötzlich leer stand und es mir unmöglich schien zu begreifen, wie die Stunden des Tages ohne Großmutter vergehen sollten. Daran erinnere ich mich. Das vergesse ich niemals.
Und ich erinnere mich, wie wir Kinder zu ihr geführt wurden, um der Toten die Hand zu küssen. Und wir fürchteten uns davor, bis jemand zu uns sagte, das sei das letzte Mal, dass wir Großmutter für die Freude danken könnten, die sie uns geschenkt hatte.
Und dann erinnere ich mich, wie die Geschichten und die Lieder vom Hof verschwanden, verpackt in einen langen, schwarzen Sarg, und wie sie nie wieder zu uns zurückkehrten. Ich erinnere mich, dass etwas im Leben fehlte. Es fühlte sich an, als ob die Tür zu einer schönen, verzauberten Welt, in der wir nach Herzenslust ein und aus gehen konnten, für immer verschlossen worden war. Und es war niemand da, der sich darauf verstand, diese Tür wieder zu öffnen.
Und ich erinnere mich, dass wir Kinder uns mit der Zeit angewöhnten, mit unseren Puppen und unseren Spielsachen zu spielen und so zu leben wie andere Kinder, und da konnte es ja so aussehen, als ob wir Großmutter nicht mehr vermissten oder uns an sie erinnerten.
Aber noch heute, vierzig Jahre später, wenn ich hier sitze und versuche die Christuslegenden zusammenzustellen, die ich weit fort im Morgenland gehört habe, erwacht in mir die kleine Geschichte von Jesu Geburt, so wie Großmutter sie erzählte. Und ich bekomme Lust, sie noch einmal zu erzählen und sie in meine Sammlung aufzunehmen.
Es war an einem ersten Weihnachtstag, als alle in die Kirche gefahren waren, außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir waren allein im ganzen Haus. Wir waren nicht mitgenommen worden, weil die eine zu jung war und die andere zu alt. Und beide waren wir traurig, dass wir nicht mit zur Christmette fahren durften, um die Weihnachtslichter zu sehen.
Als wir so dasaßen in unserer Einsamkeit, begann Großmutter zu erzählen.
»Es war einmal ein Mann«, begann sie, »der in die dunkle Nacht hinausging, um Feuer zu holen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte überall: ›Bitte, helft mir‹, sagte er. ›Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen, und ich will Feuer für beide machen, um sie und das Kleine zu wärmen.‹
Aber es war mitten in der tiefen Nacht, alle Menschen schliefen. Niemand antwortete ihm. Der Mann lief weiter und weiter. Schließlich sah er weit entfernt den Schein eines Feuers leuchten. Er lief also in diese Richtung und entdeckte, dass ein Feuer draußen im Freien brannte. Eine Herde weißer Schafe lag schlafend um das Feuer herum, und ein alter Hirte saß daneben und bewachte sie. Als der Mann, der sich das Feuer holen wollte, bis zu den Schafen herangekommen war, sah er, dass zu Füßen des Hirten drei große Hunde schliefen. Die Hunde erwachten, als er näher kam, und öffneten weit ihre Mäuler, so als ob sie bellen wollten, aber es kam kein Ton heraus. Der Mann sah, wie sich die Haare auf ihren Rücken aufstellten, er sah ihre scharfen Zähne im Schein des Feuers weiß aufleuchten, und wie sie ihm entgegengelaufen kamen. Er spürte, wie einer der Hunde versuchte, in sein Bein hineinzubeißen, und einer in seine Hand, und wie sich einer anschickte, in seine Gurgel zu beißen. Aber ihre Kiefer und Zähne, mit denen sie zubeißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann nahm nicht den geringsten Schaden.
Nun wollte der Mann weitergehen, um sich zu holen, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht aneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärtskam. Da stieg der Mann auf den Rücken der Schafe und lief über sie hinweg bis zum Feuer. Und keines der Tiere erwachte oder bewegte sich auch nur.«
Bis hierhin hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber jetzt konnte ich nicht anders, ich musste sie unterbrechen:
»Warum sind sie nicht erwacht, Großmutter?«, fragte ich.
»Das wirst du gleich erfahren«, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort.
»Als der Mann nah genug an das Feuer herangekommen war, blickte der Hirte zu ihm auf. Er war ein alter, mürrischer Mann, der anderen hart und unfreundlich begegnete. Und als er den Fremden kommen sah, zog er den langen, spitzen Stab, den er immer in der Hand hielt, wenn er die Herde hütete, zu sich heran und warf ihn dem Mann entgegen. Und der Stab flog pfeifend direkt auf den Mann zu, aber bevor er ihn treffen konnte, wich er zur Seite aus und schoss an dem Mann vorbei weit hinaus aufs Feld.«
Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie erneut:
»Großmutter, warum wollte der Stab den Mann nicht treffen?« Aber Großmutter kümmerte sich nicht darum, mir zu antworten, sondern fuhr fort zu erzählen. »Jetzt hatte der Mann den Hirten erreicht und sagte zu ihm: ›Bitte, hilf mir und gib mir etwas von deinem Feuer! Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen, und ich will Feuer für beide machen, um sie und das Kleine zu wärmen.‹
Der Hirte hätte am liebsten ›Nein‹ gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde den Mann nicht hatten verletzen können und die Schafe nicht vor ihm weggelaufen waren und dass sein Stab ihn nicht hatte umwerfen können, bekam er es mit der Angst zu tun und wagte nicht, dem Mann seine Bitte abzuschlagen.
›Nimm dir, soviel du brauchst!‹, sagte er zu dem Mann.
Aber das Feuer war fast heruntergebrannt. Es waren weder Äste noch Zweige übrig, sondern nur ein großer Haufen Glut, und der Fremde besaß weder eine Schaufel noch eine Kelle, in der er die rote Glut hätte tragen können.
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