»Warum denn?« erkundigte sich der Geistliche mit heiterer Verwunderung.
»Weil das ... ein Drache ist...«, murmelte Grigori.
»Wieso denn ein Drache? Was für ein Drache?«
Grigori schwieg eine Weile.
»Es ist eine Verwechslung der Natur vorgegangen ...«, murmelte er, zwar undeutlich, aber mit sehr fester Stimme er wollte offenbar nicht näher auf die Sache eingehen.
Man lachte, und selbstverständlich wurde das arme Kindchen getauft. Grigori betete andächtig beim Taufbecken, ohne jedoch seine Meinung über den Neugeborenen zu ändern. Übrigens ließ er alles ruhig geschehen, nur sah er den kränklichen Knaben während der ganzen zwei Wochen, die er lebte, beinahe gar nicht an, wollte ihn nicht einmal bemerken und hielt sich größtenteils außerhalb des Zimmers auf. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber gestorben war, legte er ihn selbst in einen kleinen Sarg und schaute ihn tief bekümmert an. Und als das kleine flache Grab zugeschüttet war, fiel er auf die Knie und verbeugte sich vor dem kleinen Hügel bis zur Erde. Seitdem sprach er viele Jahre lang nicht ein einziges Mal von seinem Kindchen, und auch Marfa Ignatjewna erwähnte es in Gegenwart ihres Mannes nie; und wenn es sich traf, daß sie mit jemand von ihrem »Kleinchen« sprach, so nur im Flüsterton, auch wenn Grigori Wassiljewitsch nicht dabei war. Wie Marfa Ignatewna wahrnahm, begann er sich schon am Begräbnistag vorzugsweise mit »göttlichen Dingen« zu beschäftigen; er las die Lebensbeschreibungen der Heiligen, meist schweigend und allein, wobei er jedesmal seine silberne Brille mit den großen, runden Gläsern aufsetzte. Nur selten las er laut, höchstens in den Großen Fasten. Er liebte das Buch Hiob; auch hatte er sich irgendwoher eine geschriebene Sammlung von Aussprüchen und Predigten »unseres von Gott erleuchteten Vaters Isaak Syrer« verschafft und las darin beharrlich viele Jahre lang, obwohl er so gut wie nichts davon verstand, aber vielleicht schätzte und liebte er dieses Buch gerade deshalb um so mehr. In der allerletzten Zeit hatte er angefangen, sich mit der Sekte der Geißler bekannt zu machen, wozu sich in der Nachbarschaft Gelegenheit bot. Er war davon augenscheinlich tief erschüttert, hielt es aber doch nicht für ratsam, zu einem neuen Glauben überzugehen. Seine Beschäftigung mit »göttlichen Dingen« verlieh seinem Gesicht natürlich den Ausdruck noch größerer Würde.
Vielleicht neigte er zum Mystizismus. Und da fielen die Geburt seines sechsfingrigen Knaben und dessen Tod ausgerechnet mit einem anderen seltsamen, unerwarteten und eigenartigen Ereignis zusammen, das in seiner Seele, wie er sich später einmal selbst ausdrückte, einen »Abdruck« hinterließ. Gerade an dem Tag, da das sechsfingrige Würmchen begraben war, erwachte nämlich Marfa Ignatjewna mitten in der Nacht und glaubte das Weinen eines neugeborenen Kindes zu hören. Sie erschrak und weckte ihren Mann. Dieser horchte und meinte, da stöhne wohl jemand, vermutlich ein Weib. Er stand auf und zog sich an; es war eine warme Mainacht. Als er vor die Haustür trat, hörte er deutlich, daß das Stöhnen aus dem Garten kam. Aber die Tür vom Hof zum Garten wurde nachts immer verschlossen, und in den Garten anders als durch diesen Eingang zu gelangen war nicht möglich, weil den ganzen Garten ein starker, hoher Plankenzaun umgab. Grigori kehrte in das Haus zurück, zündete die Laterne an, nahm den Gartenschlüssel und ging schweigend in den Garten, ohne sich um die Angst seiner Frau zu kümmern, die immer noch glaubte, sie höre das Weinen eines Kindes und da weine bestimmt ihr Knabe und rufe nach ihr. Dort hörte er deutlich, daß das Stöhnen aus ihrem Badehäuschen kam, welches im Garten nahe bei der kleinen Pforte stand, und daß es wirklich eine Frau war, die da stöhne. Er öffnete das Badehäuschen und erblickte ein Schauspiel, das ihn erstarren ließ. Eine stadtbekannte Irrsinnige, die sich auf den Straßen herumzutreiben pflegte und Lisaweta die Stinkende genannt wurde, hatte sich Eingang in das Badehäuschen verschafft und soeben ein Kind geboren. Das Kind lag neben ihr, sie lag im Sterben. Sie redete nichts, schon deswegen nicht, weil sie überhaupt nicht reden konnte. Aber das alles bedarf einer besonderen Erläuterung.
2. Lisaweta die Stinkende
Es gab da einen besonderen Umstand, der Grigori tief erschütterte und ihn endgültig in einem unangenehmen, ekelhaften Verdacht von früher bestärkte. Diese Lisaweta die Stinkende, zwanzig Jahre alt, war ein sehr kleines Mädchen »wenig mehr als zwei Arschin groß«, wie sie nach ihrem Tode viele gottesfürchtige alte Weiblein unserer Stadt beschrieben haben. Ihr gesundes, breites, rotbackiges Gesicht war völlig schwachsinnig, ihre Augen blickten starr und unangenehm, allerdings friedlich. Sie ging ihr ganzes Leben lang, im Sommer und im Winter, barfuß und nur in einem Leinenhemd. Ihr fast schwarzes, sehr dichtes Haar war kraus wie bei einem Schaf und bildete auf ihrem Kopf eine Art Mütze. Außerdem war dieses Haar immer voller Erde, Schmutz, Blättchen und Spänchen, weil sie ständig auf der Erde und im Schmutz schlief. Ihr Vater war ein heruntergekommener, siecher Kleinbürger namens Ilja, der stark trank, kein eigenes Haus hatte und schon seit vielen Jahren als Arbeiter bei einem wohlhabenden Kleinbürger unserer Stadt lebte. Lisawetas Mutter war schon lange tot. Der stets kränkliche, bösartige Ilja schlug Lisaweta jedesmal, wenn sie nach Hause kam, in unmenschlicher Weise. Aber sie kam nur selten, da sie sich als irres und nach der Meinung des Volkes gottgeweihtes Menschenkind in der ganzen Stadt ihre Nahrung suchte. Iljas Wirtsleute und Ilja selbst, ja sogar viele mitleidige Kaufleute und namentlich Kaufmannsfrauen hatten wiederholt versucht, Lisaweta mit anständiger Kleidung zu versehen, und hatten ihr im Winter einen Schafpelz und Stiefel angezogen, sie ließ das alles widerspruchslos mit sich geschehen, ging dann jedoch für gewöhnlich weg, zog irgendwo, meist in der Vorhalle der Hauptkirche, alles, was ihr geschenkt worden war, wieder aus: Tuch, Rock, Pelz, Stiefel, ließ alles liegen und verschwand – barfuß und im Hemd wie vorher. Einmal besuchte der neue Gouverneur unseres Gouvernements zufällig unser Städtchen und wurde durch Lisawetas Anblick in seinen edelsten Gefühlen beleidigt. Obgleich er erkannte, daß sie ein geistesschwaches Kind Gottes war, wie ihm auch mitgeteilt wurde, machte er doch tadelnd darauf aufmerksam, daß ein junges Mädchen, welches nur im Hemd herumlaufe, den Anstand verletze, und verlangte die Beseitigung dieses Ärgernisses. Aber der Gouverneur reiste ab, und man ließ Lisaweta, wie sie war. Endlich starb ihr Vater, und dadurch wurde sie allen gottesfürchtigen Leuten in der Stadt noch lieber, da sie ja nun eine Waise war. In der Tat schienen alle sie gern zu haben; selbst die Jungen hänselten und kränkten sie nicht; und im allgemeinen sind doch die Jungen, besonders die Schüler, bei uns eine ungezogene Bande. Sie ging in unbekannte Häuser, und niemand jagte sie hinaus; im Gegenteil, jeder war freundlich zu ihr und gab ihr ein paar Kopeken. Wenn man ihr Geld gab, trug sie es sofort davon und steckte es in eine Sammelbüchse an der Kirche oder am Gefängnis. Gab man ihr auf dem Markt einen Kringel oder ein Weißbrot, so gab sie es sofort dem ersten Kind, das ihr begegnete, oder sie hielt eine unserer reichsten Damen an und gab es der, und die Damen nahmen es sogar mit Freuden an. Sie selbst aber nährte sich nur von Schwarzbrot und Wasser. Sie trat manchmal in einen reichen Laden und setzte sich hin; da lag teure Ware, auch Geld, die Ladeninhaber jedoch hielten es nie für nötig, vor ihr auf der Hut zu sein: Sie wußten, wenn man auch Tausende vor ihren Augen hinlegte und vergäße, würde sie nicht eine Kopeke davon nehmen. In die Kirche ging sie nur selten; doch schlief sie entweder in der Vorhalle einer Kirche oder sie stieg über einen geflochtenen Zaun – bei uns gibt es selbst noch heutzutage viele geflochtene Zäune statt der Plankenzäune – und nächtigte in einem Gemüsegarten. Nach Hause, das heißt in das Haus der Leute, bei denen ihr verstorbener Vater gewohnt hatte, kam sie im Sommer, etwa einmal in der Woche, im Winter aber täglich, jedoch nur zur Nacht, und schlief dann entweder auf dem Flur oder im Kuhstall. Man wunderte sich über sie, daß sie ein solches Leben aushielt, aber sie war es nun einmal gewohnt, war zwar klein, doch besaß sie eine außerordentlich kräftige Konstitution. Manche Herrschaften behaupteten bei uns auch, sie tue das alles nur aus Stolz, aber dies Behauptung fand keinen rechten Glauben: sie konnte nicht einmal ein Wort sprechen und bewegte nur ab und zu die Zunge und brummte etwas – wie konnte da von Stolz die Rede sein!
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