Der Vater ist überhaupt ruhiger und gelassener als die Mutter. Gardi meint, er sei ein friedliebender Mensch gewesen und die Rolle als strafender Vater habe nicht zu ihm gepasst. Aber er muss sie ausfüllen. Es gehört sich so. Die Mutter ist wachsam und hat alles unter Kontrolle. Gardi als einzige Tochter steht unter besonderer Beobachtung, sie soll ein Vorzeigemädchen sein. Doch sie ist schlau und lernt im Laufe ihrer Kindheit und Jugend, mit dem Kontrollregime umzugehen. Wenn sie etwas will, ist es am besten, sie fragt die Mutter, wenn diese im Geschäft ist, dann muss sie freundlich bleiben und sagt schneller Ja, weil Kunden im Laden sind und sie sich nicht auf lange Diskussionen einlassen kann. Wenn Gardi also fragt, ob sie draussen spielen darf, wird das zwar bewilligt, aber nie ohne Auflagen. Alle Kinder müssen von klein auf viel im Haus mithelfen. Mittags und abends werden sie eingespannt beim Abwaschen und Abtrocknen und beim Aufnehmen des Küchenbodens. Als sie grösser werden, heisst es Auto waschen, im Garten helfen, Keller aufräumen. Auch im Modehaus müssen sie mithelfen, beim Auspacken neuer Lieferungen und beim jährlichen Inventarisieren. Der Vater liest von jedem Kleidungsstück die Nummer auf dem Etikett ab, und die Kinder tragen sie in eine Liste ein. «Wenn neue Kleider in Schachteln angeliefert wurden, mussten wir alle Schnüre aufwickeln und stundenlang das Seidenpapier, das die Kleider knitterfrei halten sollte, ausstreichen und zusammenlegen. Nichts wurde weggeworfen, alles wurde wiederverwendet. Das geht mir bis heute nach. Wenn ich etwas mit Seidenpapier geliefert bekomme, streiche ich es aus und bewahre es auf.»
Dass die Kinder so viel helfen müssen, hat einerseits mit der hohen Arbeitsbelastung der Eltern zu tun; es ist gleichzeitig aber auch Teil des erzieherischen «Antiverwöhnprogramms». Gespielt wird erst, nachdem etwas geleistet wurde. Wie auf dem Bauernhof müssen alle mit anpacken. Und auch einen religiösen Zug hat die Methode: Irma Hutter lebt nach dem Motto «Müssiggang ist aller Laster Anfang». Doch es ist nicht etwa so, dass die Kinder dauernd kontrolliert würden, das geht gar nicht. Die Eltern sind viel zu beschäftigt im Laden, und so gibt es trotz strenger Erziehung doch einigen Freiraum, den die Kinder draussen nutzen.
MÄDCHEN SIND «DAS ANDERE»
«Wenn wir aus dem Haus waren, dann waren wir frei. Wir spielten stundenlang Verstecken und Völkerball auf der Strasse, und mit den Nachbarskindern haben wir wilde Banden gebildet. Es kam kaum ein Auto, und wenn, dann ist man kurz zur Seite getreten.» Die Altstadt ist belebt von kleinen Gewerbebetrieben. Gleich in der Nachbarschaft des Modehauses befinden sich nicht nur ein Bäcker und ein Metzger, sondern auch ein Gerber, ein Schmied und ein Küfer, der Fässer herstellt. «Ich weiss heute noch, wie es beim Gerber und in der Schmiede roch und wie wir Kinder zusahen, als im Notschlachthaus eine Kuh ausgenommen wurde, die ausgestreckt am Boden lag. Das machte uns grossen Eindruck. Als ich klein war, spielte ich auch oft draussen mit Puppen. Ich habe mit Nachbarsmädchen mit abgebrochenen Bleistiftminen ein Haus, ein Spital, die Schule, den Laden et cetera auf die Strasse gemalt, und dann sind wir mit den Puppen hin- und hergegangen und haben uns Geschichten ausgedacht.»
Das ist die Mädchenseite ihrer Spiele, aber es gibt auch die Bubenseite, an der sie sich gerne beteiligt. «Meine zwei grossen Brüder haben viel Unfug und Gefährliches gemacht, sind von hohen Mauern gesprungen, haben ein Luftdruckgewehr ausprobiert, und ich bin natürlich immer mit und hinterher. Sie waren meine grossen Vorbilder.» Ein zugelaufener Hund wird in die Familie aufgenommen und Rexli genannt.
Die Position von Gardi als drittem Kind und einzigem Mädchen in der Familie ist nicht immer einfach. Den beiden grossen Brüdern eifert sie nach. Dass diese oft auf ihre kleine Schwester aufpassen müssen, ist ihnen aber eher lästig. Denn wenn die Kleine ihnen nachrennt, umfällt und schreit, werden sie mit einer Ohrfeige bestraft. Gardi hingegen muss sich als Jüngere wehren und verteidigen. «Es ging rau zu und her. Wir waren vier Kinder und wetteiferten um alles, vom Dessert bei Tisch bis zur Aufmerksamkeit der Eltern.» Wenn Gardi zu Weihnachten oder zum Geburtstag Schokolade bekommt, muss sie diese gut vor Erwin und Fredi verstecken. Und dann finden sie sie trotzdem, essen sie der Schwester genüsslich weg und platzen vor Schadenfreude. Denn sie war ja nicht schlau genug, ein gutes Versteck zu finden. Einmal entdecken die Brüder ein Tagebuch, das Gardi führt, lesen es und ziehen sie damit auf. Gardi ist wütend und gekränkt, auch dass die Mutter sie in solchen Momenten nicht in Schutz nimmt. Sie fühlt sich oft alleine. Ihr Zimmer ist viel grösser als der enge Raum, den die drei Buben teilen, weil er auch noch als Gästezimmer dient. Die Brüder beneiden sie um das grosse Einzelzimmer. Sie wiederum wäre nur zu gern Teil der Zimmergemeinschaft nebenan. Wegen einer fehlenden Heizungsröhre klafft ein Loch in der Wand zwischen den Räumen. Gardi beobachtet wehmütig, wie die Jungs miteinander toben. Sie gehört dazu und gehört doch nicht dazu; ein unbestimmtes Gefühl von Fremdheit, von Danebenstehen, Nicht-ganz-beteiligt-Sein, wird zu ihrem ständigen Begleiter.
Hängt die Fremdheit auch damit zusammen, dass der Geschlechterunterschied von den Eltern so stark betont wird? Gardi möchte sein wie die Brüder, muss aber anders sein, weil sie ein Mädchen ist. Mädchen sind brav, tragen Röckchen, weisse Kniesocken, klettern nicht auf Bäume, pfeifen nicht und sind nicht laut. Mädchen nehmen sich zurück, passen sich an, sind lieb.
Es sind nicht nur die Eltern, die so denken – die gesellschaftlichen Strukturen sind darauf ausgelegt, den Geschlechterunterschied zu betonen. Vom getrennten Schulunterricht über die Trennung in den Kirchenbänken bis zu den zwei unterschiedlichen Kinder- und Jugendverbänden: Pfadfinder für die Buben und Blauring für die Mädchen. Während die Brüder mit der Pfadi durch den Wald pirschen und im Pfingstlager zelten dürfen, sitzt Gardi im Blauring, wo gehäkelt und gebastelt wird. «Mit 13 konnte ich dann endlich auch in die Pfadi, als Leiterin für die Jüngsten, die Wölfli. Kaum war das möglich, wechselte ich sofort. Aber natürlich konnte ich da nicht rumtoben. Ich war ja verantwortlich für die Kleinen – war quasi die vorbildliche Ferienmutter. Aber mit einem Pfadiführer scheu geschmust habe ich dann trotzdem.»
Die Botschaft in ihrer Jugend ist immer dieselbe: Mädchen sind «das Andere». Gardi ist von ihrem Naturell her aber gar nicht so anders. Sie steckt voller Energie. Sie rennt gerne mit den Buben mit, eifert den zwei Grossen nach, hat ihren Spass an wilden Spielen und Mutproben. Erwünscht ist das nicht. Und so steht sie zwischen den Welten. Sie soll anders sein und anders werden. Sie hadert mit dem Mädchenbild, so wie sie später mit dem Frauenbild hadern wird. «Ich denke, dass ich eine andere Person geworden wäre, vielleicht sogar einen anderen Lebensweg eingeschlagen hätte, wenn wir zwei Mädchen und zwei Buben in der Familie gewesen wären», sagt sie im Rückblick, «es wäre mir einiges an Selbstzweifeln erspart geblieben.»
Der jüngste Bruder Gilbert habe es am einfachsten gehabt, sagt sie. Er ist Mutters Liebling, verhält sich umgänglich und brav, ist nicht so trotzig wie die ältere Schwester. Erwin, Fredi und Gilbert Hutter erleben ihre Kindheit weniger streng als die Schwester. Eine schöne Kindheit hätten sie gehabt, erzählen sie heute und bestätigen gleichzeitig, dass es für Gardi als einziges Mädchen schwieriger gewesen sei. Die Mutter erlaubt den Buben mehr und kontrolliert sie weniger. Aber auch für Gardi ist nicht alles geprägt von Zwang und negativen Erfahrungen.
WOCHENEND- UND FERIENFREUDEN
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