»Oh, tut mir leid«, entschuldigte sich David, nahm die Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Wasser aus der Tasse herunter.
Der Assistenzarzt lächelte und klopfte David aufs Bein, warf den Pappbecher in den Papierkorb und war kurz darauf schon wieder aus der Tür.
Wo waren sie stehen geblieben? Der zärtliche Blick, den Dusty ihm zuwarf, als er den Kopf hob, machte David nervös und ließ ihn vergessen, dass Dusty seine Frage noch gar nicht beantwortet hatte. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Sie sahen sich einfach nur an. Normalerweise war David zu schüchtern, um anderen länger als ein paar Sekunden in die Augen zu sehen. Doch irgendetwas an Dusty zog ihn zu ihm hin wie die Motte zum Licht. In Dustys Augen lag eine Güte, die David in seinem jungen Leben noch nicht oft gesehen hatte. Dieser Mann zog ihn regelrecht in seinen Bann. Auch wenn sich David immer noch ziemlich sicher war, dass Dusty ihm etwas verheimlichte, war er davon überzeugt, dass dieser Mann nichts Böses im Schilde führte.
Plötzlich hatte er einen Flashback. Sein Bruder Dale, der ihn anknurrte, der wegen seiner schmächtigen Statur und femininen Züge auf ihm herumhackte. Sein Körper begann unwillkürlich zu zittern.
Dusty, der denken musste, dass ihm kalt war, stand auf und griff nach der weichen, weißen Decke. Er zog sie bis zu Davids Brust nach oben und steckte sie unter seinen Armen fest. Dusty räusperte sich und setzte sich wieder auf den Stuhl. »Also, willst du mir nicht erzählen, was du geträumt hast, D?«
David nickte. Er griff nach dem Wasser und nahm einige große Züge, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuspülen. Mit Dustys Hilfe brachte er das Bett in eine aufrechte Position und stopfte sich einige Kissen in den Rücken, sodass er aufrecht sitzen konnte. »Ich habe von dem Tag geträumt, an dem ich meiner Mutter und meinem Bruder Dale gesagt habe, dass ich schwul sei. Sie waren nicht gerade begeistert.« David schnaubte. Es klang beinahe wie ein Lachen, doch es lag keine Freude darin. »Ich dachte, mein Bruder würde mich umbringen, aber dann ist Mom nach Hause gekommen und hat ihn zurückgehalten. Aber sie hat immer wieder gesagt, das sei eine Sünde, abscheulich, dass ich nicht schwul sein könne.« David starrte auf seinen Schoß und zupfte mit der Hand, die Dusty nicht hielt, abwesend an den Nähten der Decke über seinen Beinen herum. »Sie hat ihren Pfarrer gerufen und die drei saßen dann mit mir in der Küche und haben versucht, mir einzureden, dass ich mich irre und alles wieder gut werde, wenn ich Gott um Hilfe bitte.« Als er es schließlich wagte, kurz zu Dusty aufzusehen, sah er, dass sich der Schmerz, den er in dieser Nacht durchlebt hatte, in Dustys Augen spiegelte.
Dusty streckte die Arme nach ihm aus und nahm Davids Gesicht in beide Hände. »Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest, D. Du weißt, dass es nichts Schlechtes ist, schwul zu sein, oder?«
David nickte und fragte sich, wann um alles in der Welt er die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Irgendetwas an dem Mann, der neben ihm saß und sein Gesicht streichelte, irritierte ihn. Er war attraktiv, warmherzig und aufrichtig. Aber wieso?
»Ich kann sehen, wie die Rädchen hinter deiner Stirn wieder anfangen zu rattern, D. Ich habe dir versprochen, dass ich dir irgendwann alles erzähle, und das meinte ich ernst. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich nur das Beste für dich will?« Dusty beobachtete ihn aufmerksam, als ob er dachte, David könnte nein sagen.
Unwillkürlich schloss David die Augen, seufzte und lehnte sich in die Hand, die noch immer auf seiner Wange lag. »Ja, D, ich glaube dir«, flüsterte er und er tat es wirklich. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, schließlich hatte ihm Dusty bisher quasi überhaupt nichts erzählt, doch in seiner Gegenwart fühlte sich David vollkommen sicher. Für ihn war er wie ein Schutzengel. Wieso auch immer Dusty hier war, David wollte, nein, brauchte ihn an seiner Seite.
Dusty lachte und das Geräusch brachte ein Lächeln auf Davids Lippen.
»Hey, du nennst mich D statt David, also nenne ich dich jetzt auch D statt Dusty. Klingt für mich ziemlich fair.« Davids trotziger Unterton entlockte Dusty ein weiteres leises Lachen.
»Sieht so aus, als fühle sich hier jemand besser«, scherzte er. »Aber Spaß beiseite. Ich denke, ich sollte mich langsam auf den Heimweg machen, damit du dich ausruhen kannst.«
Als Dusty aufstehen wollte, griff David panisch nach seiner Hand und zog ihn zurück zum Bett. »Nein, bitte geh nicht. Bleib bei mir«, flehte er ihn an.
»Okay, D, wenn du willst, bleibe ich.« Dusty schoss die Warnung der Schwester in den Wind und setzte sich zu David aufs Bett, zog seinen nun zitternden Körper in seine Arme. »Sag mir, wieso du zitterst, D«, flüsterte Dusty in sein seidiges, blondes Haar.
David hörte ein leises Knarren an der Tür und wusste, dass die Schwester zurück war, doch er wagte es nicht, zu ihr aufzusehen. Er konnte nur beten, dass sie verstand, was hier tatsächlich vor sich ging, und es ihnen durchgehen ließ. David atmete mehrmals zittrig ein und aus, bevor er sprach. »Ich … Ich weiß nicht, D. Es ist nur … Als du gesagt hast, dass du gehst, hatte ich plötzlich Angst. Ich weiß nicht, wieso, aber ich will einfach nicht allein sein. Bitte geh nicht.«
Dusty drückte ihn noch ein wenig fester an sich und strich mit der Hand über seinen Rücken, um ihn zu beruhigen. »Wenn die Schwestern es erlauben, bleibe ich, D, versprochen.«
David fuhr auf, als eine dritte Hand seinen Rücken berührte. Es war Schwester Megan und er betete, dass sie Dusty nicht aus dem Zimmer warf, weil sie ihn wieder bei ihm auf dem Bett erwischte, obwohl sie ihn gerade erst ermahnt hatte. Sie lächelte verständnisvoll. »Alles in Ordnung, David?«
»Ja, ich … Ich bin okay. Kann Dusty über Nacht bleiben? Ich will nicht allein sein.«
Megan warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. »Streng genommen ist die Besuchszeit um neun zu Ende. Aber … solange Sie mir versprechen, dass er nicht bei Ihnen im Bett schläft, haben Sie meine Erlaubnis.« Sie sah sie beide streng an, eine Augenbraue erhoben.
Sie stimmten hastig zu.
»In Ordnung, dann lasse ich Ihnen eine Liege hier runterbringen, Dusty.« Sie ging zur anderen Seite des Bettes und überprüfte die Anzeige von Davids Monitor, nicht ohne Dusty noch einen scharfen Blick zuzuwerfen.
»Oh, sorry.« Er stand auf, setzte sich zurück auf den Stuhl und grinste sie an.
David schüttelte den Kopf, wandte sich um und sah zu der Schwester auf, die gerade sein Handgelenk hielt und dabei auf ihre Uhr sah.
»Hier sieht alles gut aus, David. Haben Sie Schmerzen?«, fragte sie.
Er hatte nicht einmal einen Gedanken an seine Verletzungen verschwendet, bevor sie danach gefragt hatte. Wenn er sich gerade nicht komplett auf Dusty konzentrierte, musste er zugeben, dass sein Bein pochte und juckte und sein Kopf immer noch ein wenig schmerzte.
Sie zog eine Spritze aus der Tasche ihrer Schwesterntracht, zog die Kappe ab und spritzte ein Schmerzmittel in die Infusionsnadel in seinem Arm.
Er fühlte sich beinahe sofort ein wenig benommen.
Megan klopfte ihm auf das ungegipste Bein, als sie am Fußende des Bettes vorbeiging. »Wieso ruhen Sie sich nicht einen Augenblick aus, David, und ich borge mir Dusty aus, um ihm eine Decke und ein Kissen zu besorgen und ein OP-Hemd, das er überziehen kann?«
David nickte. Seine Augenlider wurden langsam schwer. Falls er gleich wieder träumte, konnte er nur hoffen, dass es ein schönerer Traum sein würde als der letzte. Etwas Unanständiges über ihn und seinen Schutzengel zum Beispiel.
Reinen Tisch machen
Dusty warf einen Blick über die Schulter, während er Megan den Gang entlang zum Stationszimmer folgte. Er wartete, bis sie sich ein ganzes Stück weit entfernt hatten, bevor er zu sprechen begann. »Wie lange wird er mit dem Medikament jetzt schlafen?«
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