„Dann zahle ich ...“, sagt Dad und holt sein Portemonnaie aus der Innenseite seines Jacketts. Innerlich muss ich lächeln. Ich habe ihm dieses Portemonnaie vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt - ein schlichtes schwarzes Lederetui, auf dem seine Initialen eingebrannt sind – R M … Raymond Malone.
„Ich gehe mich noch schnell frisch machen ...“, sage ich und stehe auf.
„Wir holen schon das Auto und warten draußen auf dich …“, ruft Dad mir hinterher.
Vor dem Spiegel im Waschraum krame ich den Lippenstift aus meiner Handtasche und drehe ihn zwischen den Fingern. Keine Ahnung, warum ich ihn gekauft habe. Ich schminke mich so gut wie nie. Seine Farbe hat mir gefallen … und der Name der Farbe … Flaming Heart. Vielleicht sollte ich endlich anfangen, Make Up zu tragen? Neben Unifreundinnen komme ich mir vor wie ein Trampel. Sie sind immer Up to Date, kennen den neuesten Klatsch und wissen, was klamottentechnisch gerade angesagt ist. Manchmal frage ich mich, warum sie überhaupt mit mir befreundet sind. Ich kann mich in der Regel nicht an ihren Gesprächen über Mode oder Trendfarben beteiligen … vielleicht hätte ich Modedesign studieren sollen … oder wenigstens Modejournalismus ...
Mit einem Seufzen werfe ich den Lippenstift zurück in die Handtasche zu dem anderen Krimskrams. Ich bin ein hoffnungsloser Fall und sollte mich auf die Uni konzentrieren – ein Studienabschluss ist das Einzige, womit ich eine Chance habe, jemanden zu beeindrucken.
Als ich den Waschraum verlassen will, gibt es einen ohrenbetäubenden Knall - gleichzeitig zittern die Spiegel an der Wand und der Boden unter meinen Füßen vibriert.
Erschrocken klammere ich mich an den Türgriff. Nach ein paar Sekunden ist alles vorbei. Aus dem Restaurant sind Schreie zu hören ...
Ich reiße die Tür auf und laufe in Panik zu unserem Tisch. Die Teller sind noch nicht abgeräumt worden, überall liegen Glasscherben, weil die Fenster gesplittert sind. Auf dem Tisch liegt noch die Rechnung für unser Abendessen.
„Mom … Dad?“, rufe ich, bekomme aber keine Antwort.
„Was ist hier los?“, frage ich einen Kellner, der ein Tablett mit Getränken in den Händen hält und wie schockgefroren dasteht.
„Ein Auto ist explodiert … genau vor unserer Tür!“
„Was?“ In meinem Bauch bildet sich ein harter Klumpen. Warum fühlt es sich plötzlich so an, als würde mein Verstand in Zeitlupe arbeiten? Ich laufe zum Ausgang. „Miss, bleiben Sie um Gottes willen hier!“, warnt mich der Kellner.
Hierbleiben?! Meine Eltern sind da draußen!
Ich stürze aus dem Restaurant und muss husten, weil mir beißender Rauch in Nase und Mund steigt. Überall liegt Glas, schwarzer Qualm steigt aus einem brennenden Auto oder dem, was einmal ein Auto war. Gesichter … einige erstarrt, andere entsetzt, starren auf den Klumpen brennenden Metalls. Meine Augen beginnen zu tränen, ich suche nach meinen Eltern, kann sie aber nirgends sehen.
„Was ist passiert?“, fragt eine der Frauen, und ein Mann antwortet: „Das war eine Bombe …“
„Wer saß in dem Auto?“ …
„Ein Mann und eine Frau … sie kamen aus dem Restaurant ...“
Nein! Sie können es nicht gewesen sein … vollkommen unmöglich …, höre ich mich selbst schreien, aber tatsächlich kommt kein einziges Wort über meine Lippen.
Ich starre auf das brennende Fahrzeug. Es ist eine schwarze Limousine … mein Vater fährt einen schwarzen Mercedes … aber es gibt unzählige schwarze Limousinen in Brackton. Warum sollte das hier ausgerechnet das Auto meiner Eltern sein?!
Dann fällt mein Blick auf ein angekokeltes Etwas, das neben meinem Fuß liegt. Langsam bücke ich mich und hebe es auf. Das Etui ist verbrannt, aber die Initialen R M sind noch zu erkennen. Aus meiner Kehle kommt ein trockenes Schluchzen, zu mehr bin ich nicht fähig. Ich lasse das verbrannte Portemonnaie fallen und stehe auf.
In diesem Moment legt sich eine Hand von hinten auf meinen Mund. Ich will schreien, werde aber brutal nach hinten gerissen und fortgezerrt … hinein in eine Seitenstraße.
Warum hilft mir denn niemand?!, Aber alle sind zu sehr damit beschäftigt, das anzustarren, was einmal das Auto meiner Eltern war. Der Rauch ist dicht, es ist dunkel … niemand achtet auf mich … wahrscheinlich haben sie mich noch nicht einmal bewusst wahrgenommen ...
Ich versuche, mich zu befreien, indem ich in die Hand vor meinem Mund beiße, werde herumgerissen und brutal an der Kehle gepackt. „Überleg dir das gut ...“, schnauzt eine Männerstimme.
Ich blinzele durch meine tränennassen Augen und versuche zu erkennen, wer der Mann ist. Er ist groß und hat breite Schultern, trägt schwarze Jeans und eine dunkle Lederjacke. Sein Haar ist kinnlang – er hat es sich nach hinten gekämmt, aber ein paar Strähnen fallen ins Gesicht. Ich erkenne einen Dreitagebart und darunter ein starkes maskulines Kinn. Seine Augen starren mich direkt an … obwohl ich ihre Farbe nicht erkennen kann, sehe ich, dass sie voller Zorn sind … voller Hass. Dieser Hass gilt mir, obwohl ich ihn überhaupt nicht kenne.
„Bitte, was ...“, setze ich an, aber er schüttelt den Kopf, um mir zu bedeuten, still zu sein.
Ich gehorche, weniger aus Angst, sondern weil der Schock zu tief sitzt.
Er lässt mich los und ich weiß, dass ich versuchen sollte, wegzulaufen; aber ganz davon abgesehen, dass weder meine Beine noch mein Verstand die Kraft dazu haben, bezweifle ich, dass ich eine Chance hätte … Woher ich das weiß? Jede Faser dieses Mannes strahlt Gefahr aus ...
Ohne mich aus den Augen zu lassen, öffnet er seine Lederjacke – darunter trägt er ein Shirt, unter dem sich seine Muskeln abzeichnen. An seinem Hals kann ich ein Tattoo erkennen – es ist ein mit einem Dolch durchstoßenes Herz …
Als er ein Tuch und eine kleine Flasche aus der Innentasche seiner Jacke zieht, ahne ich, in welche Richtung die Reise gehen soll, und es gelingt mir endlich, meine Starre zu lösen.
Ich wirbele herum und schaffe zwei Schritte zu laufen, bis sein Arm sich von hinten um meine Kehle legt. Ich huste und würge, weil ich keine Luft bekomme. Es ist ein schreckliches Gefühl. Kurz, bevor alles schwarz wird, verstehe ich, dass dieser Mann mich tatsächlich hasst …
Cage
„Du bist ein kranker Bastard, Cage ...“, stellt Ron kopfschüttelnd fest, während er den Käfig umrundet. „Ich wusste immer, dass da oben bei dir irgendetwas nicht stimmt. Der Richter ist tot. Seine Tochter hat mit der Sache nichts zu tun. Willst du sie etwa in diesen Käfig einsperren?“
Ich bedenke Ron mit einem Blick, der so unmissverständlich ist, dass er die Hände hebt. Ron ist mein Boss, allerdings leitet er nur einen Bezirk von Brackton. Der Kopf des Syndikats und damit der wahre Boss ist der General.
„Ernsthaft, Cage … du willst sie doch nicht wirklich wie ein Tier halten?“
Ich bleibe ihm eine Antwort schuldig, weil ich genau das vorhabe! Der General hat ein für alle Mal beschlossen, den Richter loszuwerden. Malone hat in den letzten Jahren zu viele Verbündete rekrutiert und damit sein Todesurteil unterschrieben. Es war nicht meine Idee, das Auto des Richters in die Luft zu jagen … ich wollte ihn für Shanes Tod bezahlen lassen, bevor er stirbt … dafür, dass er mir die einzige Familie genommen hat, die ich je hatte! Aber der General hat entschieden, dass die Sache schnell und sauber gelöst werden muss. Mein persönlicher Racheplan hat ihn nicht interessiert. Eigentlich hat der Richter Glück gehabt. Er ist mir entkommen, aber Juliana Malone gehört jetzt mir.
Auch wenn Ron das nicht passt - ich bin ein zu wichtiger Geschäftspartner, als dass er mich wegen einer persönlichen Angelegenheit beim General verpfeift.
„Du weiß, das darf niemals rauskommen ...“, wendet Ron ein. „Das Mädchen ist offiziell tot … wenn der General erfährt, dass sie noch lebt ...“
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