SONDERKOMMISSION
MORD-NETZ
Kriminalroman
von
Jennifer Wegner
© 2020 Jennifer Wegner
Erstausgabe 2020
published by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
1
„Zentrale für Peter 21-2!“
„Peter 21-2 hört!“
„Zwischenfall mit Personenschaden an der Linie U4, Haltestelle HafenCity Universität “, meldete die Stimme des diensthabenden Beamten der Einsatzzentrale.
„Rot-Kreuz ist unterwegs. Ich schick euch die SpuSi und weitere Teams, um die Aussagen vor Ort aufzunehmen!“ Polizeimeister Tom Petrowski und Polizeihauptmeisterin Clara Schütt, die in rund 40 Minuten Feierabend gehabt hätten, wussten, dass das einige Überstunden für sie bedeutete. Tom brach ihre Patrouillenfahrt ab und war in knapp drei Minuten am U-Bahn-Zugang HafenCity , der erst vor knapp zwei Wochen für den täglichen Betrieb seine Tore geöffnet hatte. Der Beamte ließ das Polizeiauto mit laufendem Blaulicht auf dem breiten Bürgersteig zwischen Fahrbahn und U-Bahn-Rolltreppen stehen und spurtete in die Unterwelt der Hamburger Hochbahn.
Eine Gruppe früher U-Bahn-Benutzer stand fast am Ende von Bahnsteig 2 zusammen. Tom sah sich kurz nach seiner Kollegin oder Sanitätern um, aber offensichtlich war er der erste der alarmierten Einsatzkräfte am Unglücksort. Er trat an die Spitze der Zugmaschine, die ganz am Anfang des Bahnsteigs zum Stehen gekommen war, und warf einen Blick auf die Schienen. Im Dunkeln unter der Lok konnte er nichts liegen sehen. Details waren bei dem Licht nicht zu erkennen, worüber Tom auch nicht traurig war.
Hinter sich hörte er Clara, die die Wartenden anwies: „Bitte, bleiben Sie hier! Wir brauchen gleich noch Ihre Aussagen. Haben Sie einen Moment Geduld!“ Seine Kollegin trat zu ihm. „Wie sieht’s aus?“
„Ich glaube, da ist nichts mehr zu machen, aber ich sehe auch nichts Genaues!“
Clara, mit ihren 47 Jahren eine erfahrene Beamtin, hatte aus dem Kofferraum des Dienstwagens eine starke Taschenlampe, Leitkegel und rot-weißes Absperrband mitgebracht. Mit der Lampe leuchtete sie zwischen Bahnsteig und Lok, schwenkte den Strahl aber rasch wieder weg, als im beschienenen Bereich zerrissene Kleidung auftauchte, ein Körper war nicht zu erkennen. „Mach du rasch ein paar Aufnahmen von der Stellung der Bahn zum Bahnsteigende!“
Clara stellte eines der orange-weißen Hütchen genau neben der Zugspitze auf den Bahnsteig, legte den Anfang des Absperrbandes darunter und rollte es dann bis zum Sperrgitter am Bahnsteigbeginn rund 1,40 Meter ab. Aus einem kleinen Lederetui am Gürtel zog sie ein Taschenmesser, das sie neben zig anderen wichtigen kleinen Dingen wie Dietrich, Polizeisiegeln und Gummihandschuhen darin immer mit sich führte. Sie spannte vorsichtig das Absperrband, ohne es unter dem Markierungskegel hervorzuziehen, hielt ihr Ende des Bands an die Mauerkante des Bahnsteigendes und schnitt das Band durch.
„Clara, was treibst du da eigentlich?“, wollte Tom neugierig wissen.
„Ich messe sicherheitshalber, wo die Lok genau stand, als wir eintrafen – falls sie vor Eintreffen der Spurensicherung weggefahren werden muss.“ Sie rollte den abgetrennten Bandabschnitt um ihre Hand gewickelt auf und steckte das abgetrennte Stück gegebenenfalls als Distanznachweis in ihre Hosentasche.
„Coole Idee!“
„Danke! „Vergiss nicht, ein paar Bilder seitlich und von vorne zu machen!“
Clara drückte auf den Knopf der Tür des ersten Wagens, aber nichts geschah.
„Warum ist hier keiner von der U-Bahn?“, wandte sich Clara an ihren 26-jährigen Kollegen.
Tom zuckte mit den Schultern und machte mit seinem Handy ein paar Aufnahmen.
„Tom, sperr bitte hier ab! Vielleicht findet die Spurensicherung doch noch einen Anhalt dafür, ob es ein Unfall oder ein Tötungsdelikt war!“ Die Polizistin hielt ihm das lange restliche Absperrband hin.
Der Bahnsteig hatte sich in den wenigen Minuten erheblich mit Menschen gefüllt, die schon vor halb 6 auf dem Weg zur Arbeit waren. Clara registrierte erst jetzt, dass auch auf dem Nachbargleis keine U-Bahn verkehrte. Der Angestellte, der irgendwo in einem Raum saß und U-Bahnen und Bahnsteige überwachte, hatte wohl die Bahnen in beiden Richtungen aufgehalten. „Peter 21-2 für Zentrale! Wanki, wo bleiben die Kollegen und jemand von der Hochbahn?“, fragte sie über Funkgerät nach. Ein Wunder, dass es hier unten im Schacht funktionierte.
„Sind unterwegs, Peter 21-2, müssten jeden Augenblick bei euch sein!“, antwortete Herbert Wankmüller, der 63-jährige Beamte in der Notrufzentrale. Als Clara sich umdrehte, kamen in ihrer roten Schutzkleidung drei Männer mit Alukoffern und Rucksäcken den Bahnsteig entlanggelaufen. Die Rumstehenden machten ihnen Platz.
Clara sah nach oben und suchte nach den Überwachungskameras. Sie gestikulierte zu einer hinauf, dass jemand runterkommen solle. Sie war nicht sicher, ob es auch Mikrofone gab, aber sie verlangte: „Wir brauchen jemanden, der den Zug bedienen kann!“
Die Rettungssanitäter und ein junger Notarzt waren bei der Polizeibeamtin angekommen. „Wissen Sie schon Genaueres?“, erkundigte sich der Arzt.
„Nein! Unter der Lok liegt jemand oder etwas! Von uns war noch keiner unten!“
„Wissen Sie, ob der Strom abgeschaltet ist, sonst ist das Ganze für uns unter Umständen ein Himmelfahrtskommando?!“
„Ich habe keine Ahnung! Eigentlich sollte das zum Notfallplan der Bahn gehören!“ Der ältere der Sanitäter hatte in der Zwischenzeit versucht, etwas im Dunkeln zu erkennen, vergeblich. Als er eine kleine Stablampe seitlich aus dem Rucksack zog, begann der jüngere die vier Stufen in der Bahnsteigwand hinunter zu steigen.
„Bist du verrückt!“, schrie ihn der Kollege an. Jede Warnung vor der hohen Spannung wäre für den jungen Mann vom Bundesfreiwilligendienst zu spät gekommen, wenn der Strom in den Schienen geführt worden wäre, aber auch hier befand sich die Zuleitung des Gleichstroms mit 1200 Volt an der gegenüberliegenden Wand und wurde mit den Schleifschuhen dem Zug zur Verfügung gestellt, wodurch die Gefahr von Stromunfällen stark gemindert wurde.
„Da kann doch heutzutage nichts mehr passieren!“, behauptete der Bufdi zuversichtlich.
„Nichts da, komm hoch! Die Eigensicherung geht vor – vor allem in so einem Fall, wo wir wahrscheinlich da unten eh niemanden mehr retten können.“
Der Sani zog den schweren Rucksack ab, legte ihn auf den Bahnsteig, damit er sich danach selbst aus dem Gleisbett hochstemmen konnte. Da dieser Abschnitt erst vor kurzem eröffnet wurde, könnte es ja eventuell doch noch technische Probleme geben. Er fragte sich, wie bei den wenigen Fahrgästen zu so früher Stunde jemand vom Bahnsteig gefallen sein sollte.
„Wo ist denn der Lokführer?“, erkundigte sich der Notarzt, der sich als erster um jenen Sorgen machte.
„Vielleicht bei den anderen Leuten?“, schlug Clara vor. „Tom, du und die Kollegen, die noch kommen, ihr sucht bitte nach dem Lokführer und nehmt zügig die Personalien und Aussagen der Passagiere auf, bevor welche verschwinden, um vielleicht doch noch pünktlich zur Arbeit zu kommen. Wer zum Unfallzeitpunkt nicht hier war, soll den Bahnsteig sofort verlassen. Oben wird der Zugang gesperrt!“
Der Notarzt wies den jungen Zivi an: „Andi, bis wir sicher sind, dass der Strom abgeschaltet ist, geht keiner da runter! - Und? Hast du was gesehen?“
Clara verstand die Antwort nicht, weil sie hinter sich eine tiefe Stimme hörte: „Lassen Sie mich durch!“
Sie drehte sich um, um zu schauen, wer die Absperrung passieren wollte. Neugierig näherte sich die Polizeibeamtin einem hoch gewachsenen Mann in den Vierzigern.
„Ich bin der zuständige Fahrdienstleiter. Der Nachtdienst hat mich aus dem Bett geklingelt. Schon der dritte Suizid dieses Jahr! Wenn man sich schon umbringt, muss man dann das Leben von anderen zerstören! Was meinen Sie, wie viele Lokführer danach nie wieder fahren können!“, echauffierte sich der Bahn-Mitarbeiter.
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