Sander ist Holländer und lebt in Frankfurt. Dort hat seine Werbeagentur ihren Hauptsitz. Es ist jetzt ein halbes Jahr her, seit wir uns im ICE begegnet sind. Am Tag darauf bekam ich die erste Email von ihm. Er schrieb auf Englisch. So sollte es bleiben: Wir schrieben englisch und sprachen deutsch. Auf diese Weise führten wir zwei Leben. Für jede Sprache existiert eine eigene Welt. In der einfachen Struktur und im klaren Ausdruck des Englischen, waren wir uns nahe. Englisch eignet sich hervorragend für Sex. Obendrein ließ uns unser begrenztes Vokabular keinen Raum für Ausflüchte und Komplikationen. Gleichzeitig bot die fremde Sprache Schutz, weil sie Gedanken und Gefühle in eine Parallelwelt bewegte.
In seiner ersten Mail schrieb mir Sander, was er von mir erwartete. Seine Worte drückten sich durch meine Poren: „Love me, love me. If you really, really love me, hurt me.“ Da war er, der Rhythmus der Welten. Die Wiederholung. Der Rhythmus. Ein Versprechen. In zwei Tagen werde ich den Kreis schließen, den er mit seiner ersten Mail geöffnet hat. Ich werde ihn verletzen. Er hat es nicht anders gewollt. Sein Herz wird auf Eis landen. Es gibt keine Alternative. Ich kann nicht anders. Diese Aussage würde ich bei keinem Klienten durchgehen lassen, man kann schließlich immer anders. Ach wirklich?
Sex ist ein Verbindungsmuster
Mein Mann Jakob ist meine gelebte Lüge und ich die seine. Das war nicht immer so, aber inzwischen haben wir uns an diesen Zustand gewöhnt. Es fühlt sich überwiegend gemütlich an und wir haben unser soziales und berufliches Leben darauf gebaut. Irgendwann ist es mir im Ehebett zu gemütlich geworden, seitdem betrüge ich meinen Mann. Vor Sander gab es andere, aber in keinen habe ich mich verliebt. Darauf habe ich geachtet. Wohin die Liebe führt, hat mir meine Ehe gezeigt – und die Ehen meiner Freunde. Liebe ist ein guter Anfang -, schlimm wird es erst in der Fortsetzung. Natürlich behaupte ich in meinen Coaching-Stunden und Vorträgen das Gegenteil – und immer hoffe ich, in meinen Lügen könnte ein Splitter Wahrheit stecken. Ich bin eben eine Romantikerin. Trotz allem. Das gefällt Sander.
Er findet mich schön, klug und aufregend. Kein Wunder, dass ich ihn nicht ernst nehmen kann. Trotzdem will ich diese falschen Komplimente von ihm hören. So kann ich mir für glückliche Sekunden vormachen, ich wäre wirklich schön, klug und aufregend. Ich vermute, viele Frauen können das verstehen. Makellos schön und liebenswert finden sich die wenigstens, deshalb lassen sie sich so vieles gefallen, von ihren Männern, der Gesellschaft, den Unternehmen, den Medien und von anderen Frauen. Ich bin Feministin. Das gebietet der klare Verstand. Selbstverständlich drücke ich es öffentlich anders aus. So ein Feministinnen-Stempel könnte mich Kunden kosten, auch heute noch. Es sollte mir egal sein, stattdessen richte ich mich danach aus. Das spricht nicht für mich, aber für meine Flexibilität und Geschäftstüchtigkeit. Von irgendetwas muss man schließlich leben. Binsenweisheit. Gefährlich, gefährlich. „Hüten Sie sich vor diesem Satz!“, lege ich meinen Kunden gerne nahe. Wenn die wüssten. Wissen sie aber nicht und das ist gut so, sonst hätte ich keine zahlungswilligen Kunden wie Georg Pfister und von irgendjemand muss ich schließlich leben.
Pfister ist Marketingchef einer Großbank und mein Klient. Für ihn fahre ich regelmäßig mit dem ICE von München nach Frankfurt. Ohne Pfister hätte ich Sander nie getroffen. Frankfurt ist ein gutes Pflaster für Therapeuten, die sich Coach nennen, entweder, weil sie keine vernünftige Ausbildung haben, so wie ich, oder weil sie wissen, dass Banker keine Therapeuten buchen, sondern erfolgsorientierte Coachs. Pfister hätte einen Therapeuten benötigt, aber er wollte mich, weil er die Hoffnung hat, mein vorgetäuschter Optimismus könnte ihn an der Oberfläche halten.
Er bestätigte meinen Eindruck, dass die meisten Karrieren aus einem Fluchtreflex heraus entstehen. Je mehr sich Männer vor den Tiefen ihrer Persönlichkeit fürchten, umso stärker peitschen sie sich auf der Karriereleiter nach oben. Zwar ahnen sie bisweilen: Wer vor der Tiefe flüchtet geht im Seichten unter, aber diese Ahnung ignorieren sie, wie so vieles andere auch. Das kann ich nachvollziehen, ich praktiziere es seit Jahren. Meine Kunden spüren das und fühlen sich verstanden. Das ist die andere Seite der Medaille. So werden Schwächen zu Stärken. Schon sind wir bei einer meiner teuren Lektionen: „Ihre Schwächen sind Ihre Stärken.“ Der Spruch kommt fast immer gut an und lässt sich wie alle pseudo-psychologischen Weisheiten mit lebensnahen Beispielen unterfüttern, mit Erfolgsstorys, um genau zu sein. Lebenswege sollen ja heute Erfolgsstorys sein. Selbstverständlich richte ich meinen eigenen Weg danach aus. Gefühle stören da nur, deshalb muss ich Sander vergessen.
Wie die meisten Menschen fröne ich lieber dem harmlosen Vergnügen, über andere zu sinnieren, anstatt mir gefährliche Gedanken über mich selbst zu machen. Meine Feigheit verstecke ich unter dem Deckmantel „berufliches Engagement“. Obendrein war es ein Notfall. Der Bankmanager ging in seinem Leben unter. Es gab nichts mehr, woran er sich hätte festhalten können. Er hatte es vor langer Zeit aufgegeben, ohne es zu bemerken. Die Rache ließ auf sich warten, aber nun war sie da – mit einer bitteren Erkenntnis im Schlepptau: „Ich habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll“, gestand sich Pfister bei unserer Sitzung ein. Eine derartige Einsicht hatte ich ihm nicht zugetraut. Er sich offenbar auch nicht. Erschrocken sah er mich an. Die Wahrheit packt kraftvoll zu, sobald sie auch nur ihre geringste Chance wittert. Ihr entkommt keiner. Glücklicherweise hat sie die besten Absichten: Sie will uns befreien.
„Wenn nichts mehr hilft, probier’ es mit der Wahrheit“, fordere ich von meinen Klienten. Vielleicht sollte ich es in meinem eigenen Leben auch mit der Wahrheit versuchen? Zur Abwechslung. Zwischen den Beziehungen zu meinem Mann Jakob und meinem Liebhaber Sander habe ich ein dichtes Lügennetz gesponnen. Bislang war es reißfest, weil ich die Knoten geschickt gesetzt habe. Ich weiß, wo sie hingehören. Nämlich dort, wo die Ängste und die Scham der Menschen sitzen, da schauen sie weg, da schmerzt es. Scham wirkt fast noch besser als Angst, weil es dabei oft genug um Sex geht. Sex ist ein Verbindungsmuster: es verbindet kleine Probleme mit großen.
Sie war „fucking good“ im Bett
Nur in den besten Fällen gibt es keine Probleme mit Sex. Für mich ist der beste Fall Sander, trotz seiner Erektionsprobleme. Leider kann er nicht behaupten, dass ich für ihn auch der beste Fall bin. Trotzdem tut er es. Er macht sich etwas vor, darin hat er Übung. Wie so viele. Ich auch. Geschmeidiges Lügen gehört zu jeder erfolgreichen Liebesbeziehung. Es ist einfach, wenn man weiß wie es funktioniert. Ein bisschen Menschenkenntnis reicht und welche Frau hätte die nicht. Oh ja, das Klischee, aber jedes Klischee musste sich irgendwann einmal beweisen, um überhaupt eines zu werden. Also bitte keine Abfälligkeiten, wenn es um Klischees geht. Sie haben die Wahrheit gepachtet.
Zurück zu Pfister. Anstatt mit mir über seine Karriere zu sprechen, wurde er persönlich. Seine Schultern sackten nach vorne. Seine Anspannung machte schlapp und seine Augen tränten. Hilflos trieb er im Kielwasser seines Lebens. Ein verletzter einsamer Mensch, der um sich weinte. Pfister wusste: Er hatte eine rare Chance auf Glück vor die Tür gesetzt. Sie hieß Marie und es war das erste Mal, dass ich von ihr hörte. Seine Gattin hieß anders.
Der unglückliche Banker war mit einer sehr schönen und sehr schlanken Nadja verheiratet, die sein Leben dekorierte. Früher betrachtete er sie als Kunstwerk. Er bewunderte sie. Bewundern schafft die Distanz der Illusion. Lieben schafft Nähe. Vorausgesetzt alles geht gut. Hatte Pfister Nadja jemals geliebt? Warum hatte er sie überhaupt geheiratet? Damals glaubte er, sie würde sein Leben bereichern. Seiner Mutter sagte er: „Ich kann mich mit ihr sehen lassen. Das ist wichtig in meinen Kreisen, ein echter Erfolgsfaktor.“ Nadja wollte nicht gesehen, sondern wahrgenommen werden. Das entging Pfister, wie so vieles. Er kannte seine Frau nicht. Die Kommunikation der Pfisters glich Selbstgesprächen, die zufällig in einem Raum stattfanden, noch häufiger allerdings beherrschte Schweigen das gemeinsame Haus. Überflüssig zu erwähnen, dass es ein hübsches Haus war. Nadja möblierte es mit Designermöbeln und achtete auf Ordnung und Sauberkeit.
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