„Ich bin nicht tot, Chara. Ich bin untot.“ Er nahm ihre Hand und schob sie unter sein Hemd bis hinauf zu seinem Herzen. „Spürst du das?“
Na sicher.
„Mein Herz schlägt. Nicht so laut wie deines natürlich.“ Er lächelte. „Aber es schlägt. Meine Haut ist warm, nicht kalt wie gefühlloser Stein. Mein Atem wird schneller … Du weißt, dass er schneller werden kann. Es spielt keine Rolle, wie tot ich bin, wenn es das Leben ist, das über mich bestimmt. Die Frage ist, was muss passieren, dass ich zum Leben erwache?“
Sein Lächeln verschwand, als hätte es ein Windstoß fortgetragen. „Viel“, zischte er. „Es muss verdammt viel passieren, dass mein Herz schlägt wie deines und meine Haut so warm wie deine wird, dass ich atme oder schneller atme als ein Schlafender.“
Seine Finger legten sich um ihren Nacken.
„Verstehst du, was ich dir sage?“
Verstand sie es? Sie war sich nicht sicher. Wie sollte sie sich auch auf seine Worte konzentrieren, wenn er nicht damit aufhörte, ihren Körper in einen brodelnden Vulkan zu verwandeln?
„Ich glaube …“ Sie hatte noch nicht zu Ende geredet, da waren seine Lippen wieder auf ihren, und diesmal war sein Kuss nicht fordernd, sondern wie der erste Atemzug nach einem drohenden Erstickungstot. Als er seine Hand unter ihrem Hosenbund nach vorne schob und kurz davor war, sie in Besitz zu nehmen, sagte sie: „Gehen wir.“
In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf ihr Gesicht und Lomond zog seine Hände zurück. Ein Schritt und er befand sich in einem sittsamen Abstand zu ihr.
„Wollt Ihr mit ihr sprechen?“, fragte er gelassen, noch bevor er die Gestalt sah, die sich ihm von hinten genähert hatte.
Chara sah die beiden silbernen Sterne aufblitzen und biss sich auf die Lippe.
„Nein, mit Euch“, antwortete Al’Jebal. Der Vampir blickte zur Seite und nickte knapp. „Gut. Wir sehen uns, Chara.“ Ein letztes lomondsches Lächeln. Dann verschwand er zusammen mit dem Namai in der Menge.
Die letzten Tage in Tamang
Ob es Tag oder Nacht war, spielte in Tamang keine Rolle. Räume und Gänge waren stets vom diffusen Leuchten des sonderbaren Geflechts an den Decken in ein geisterhaftes Licht getaucht. Hier war es das zusätzliche Flackern der auf den Dochten der Öllampen hüpfenden Flammen, die überdimensionale Schatten an die Wände der Bibliothek warfen.
Regale, die bis knapp unter die hohe Felsendecke reichten, zogen sich in scheinbar endlosen Reihen vom Eingangsbereich bis an die rückwärtige Wand. Es roch nach heißem Wachs, Pergament, Staub und dem Schweiß jener, die in der Bibliothek seit vielen Glas die kommende Reise vorbereiteten.
Dort, wo sich die Regalreihen mit all dem skrupulös geordneten Wissensschatz zur Tür hin öffneten, hing eine schwere Leuchte an vier Eisenketten von der Decke und hüllte die kleine, emsig arbeitende Runde unter sich in einen satten Lichtkegel. Um den Tisch aus schwarzem Ahorn wurde protokolliert, debattiert und organisiert. In wenigen Tagen sollte eine Flotte von tausend Schiffen aus der unterirdischen Hafenanlage Tamangs auslaufen, um mit den etwa vierzigtausend Seelen ihrer Besatzung dem Großen Abgrund entgegen zu segeln. Einhundert Kriegsschiffe und einhundert Allzweckschiffe der Güldenmaid-Bauweise, einhundert Mannschaftstransporter, sechshundertfünfzig Versorgungstransporter und fünfzig vallandische Drachen warteten in den unterirdischen Becken des Hafens darauf, über das Randmeer geschickt zu werden. Einunddreißigtausend Piraten, viertausend Krieger, tausend Zauberkundige, fünfhundert Priester, fünfhundert Heiler und Bader, tausend Handwerker, fünfhundert Gelehrte, eintausend Männer und Frauen, die für die Versorgung der Flotte und ihrer Besatzung zuständig waren, und fünfhundert Assassinen würden unter dem Kommando der neuen Helden der Allianz einer ungewissen Zukunft entgegensegeln – allesamt aus den unterschiedlichsten Völkern und Rassen Amaleas.
Bereits seit fünf Tagen arbeiteten Telos, Siralen, Chara, Lucretia und einige Berater fieberhaft an den letzten Vorbereitungen dieser gigantischen Expedition. Zuerst galt es, die Anzahl der Schiffe und Besatzungen festzulegen, worüber sie nach endlosen hitzigen Debatten noch am ersten Tag Einigkeit erzielten. Aufgrund der nicht abschätzbaren Dauer dieser Irrfahrt, der unbekannten Ziele und der zu erwartenden Kontakte mit gänzlich fremden, möglicherweise feindlich gesinnten Wesen, kam man überein, eine ganze verdammte Armada von Schiffen zu benötigen. Vor allem auch, um eine möglichst große Fläche abzudecken, weil niemand wusste, wo genau sie das erhoffte Land suchen sollten, und weil sie für die Überfahrt der angestrebten Zahl an Verbündeten jede Menge Transporter benötigten – sowohl für die Leute als auch für deren Versorgung. Außerdem mussten etwaige Verluste verschmerz- und verkraftbar bleiben, und kein gesunkenes Schiff durfte die Mission als Ganzes gefährden. Die Mitglieder der Flotte hatten nichts Genaues über diese Mission erfahren. Sie wussten weder, dass sie Amalea verlassen, noch völlig unbekanntes Gebiet erschließen würden. Der Einzige, dem sie die groben Pläne verraten mussten, war der zukünftige Admiral der Flotte.
Überraschenderweise hatte es trotz der Geheimhaltung eine wahre Flut an Freiwilligen gegeben, allen voran Piraten, was noch am ehesten zu erwarten gewesen war. Die Aussicht auf Kampf, Glorie und die eine oder andere Seeschlacht war verlockend für jemanden, der sein Leben dem Raub- und Entdeckungszug gewidmet hatte. Außerdem lag die Vermutung nahe, dass diese Expedition bereits seit Monden, vielleicht seit Jahren geplant und vorbereitet worden war. Was die vielen Freiwilligen anbelangte, die nicht zu den Freibeutern zählten, stellte sich nichts desto trotz die Frage: Wie freiwillig war deren Bereitschaft tatsächlich, auf eine Reise mit unbekanntem Ziel zu gehen?
Niemand wusste genau, wie sich die Allianz organisierte, wann genau Al’Jebal damit begonnen hatte, Tamang und sein geheimes Bündnis aufzubauen. Wer von den Mitgliedern war unterworfen und wer war aus eigenem Willen beigetreten? Gab es ursprünglich Gefangene, deren Nachkommen in die Allianz geboren wurden? Es war naheliegend, dass es Mitglieder gab, die diese unterirdische Stadt nie verlassen hatten. Manche bewegten sich mit einer Selbstverständlichkeit durch die Gänge Tamangs, als wäre dies ihre erste und einzige Heimat.
Chara hatte sich an Formation und Struktur der Flotte versucht, wobei sie schnell zu dem Schluss gekommen war, sie in zehn autarke Einzelflotten zu je hundert Schiffen zu gliedern. Was nichts anderes hieß, als dass man neben einem Admiral auch neun Vizeadmiräle ernennen musste. Bevor sie sich aber dieser Aufgabe widmen konnten, kam ein noch viel diffizilerer Teil der Planung: Die Festlegung der Kommandokette innerhalb der Armada. Rasch war allen klar, dass aufgrund der Vielzahl der sich im Flottenverband befindlichen Rassen, Nationen und Gruppierungen nicht für jede einzelne Abteilung ein Sprecher ins Kommando einziehen konnte. Das würde die Größe desselben schlicht sprengen und die Sache enorm verkomplizieren – je mehr Befehlshaber, desto wahrscheinlicher eine Uneinigkeit zwischen ihnen, was bei einem demokratischen Reglement innerhalb des Stabs zwangsläufig Verzögerungen in den Entscheidungsfindungen nach sich zog. Folglich: Weniger Kommandanten und ein schärferes Diktat in der Befehlsausgabe.
Sie einigten sich darauf, dass die wesentlichen Fraktionen im Kommando vertreten sein mussten: die Landstreitkräfte, die Seefahrer, die Zauberkundigen und die Interne Sicherheit. Letztere fiel unter den Zuständigkeitsbereich der Assassinen. Alle anderen Abteilungen schob man besagten Fraktionen zu oder besser gesagt unter. Die Heiler und Priester kamen zu den Zauberkundigen, die Versorger zu den Landstreitkräften, die Gelehrten … nun ja, da war man sich nicht ganz einig. Also wurde dieses Thema erst mal beiseitegelegt. Der Aufschub rief erneut die Bestimmung des Admirals und der Vizeadmiräle auf den Plan, und man ließ sich von Admiral Herkul Polonius Schroeder eine Liste mit Empfehlungen aushändigen.
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