Da war das Gefühl, nie ganz allein zu sein. So wie jetzt. So, wie es gestern war und so, wie es auch morgen sein würde, und übermorgen, und überübermorgen …
Was wollt Ihr? Wir können Euch helfen.
Wenige Worte, die alles verändern könnten, alles heil machen könnten. Einen Neuanfang versprechend, ein anderes Leben. Vergessen, was passiert war, vergessen, dass er tot war … vergessen, dass sie es war, die ihm den Todesstoß verpasst hatte.
Oh Stowokor. Was ist nur mit uns geschehen?
Als die Sonne aufging, war das goldene Wasser schwarz geworden – schwarz wie die Nacht, die mit dem Anbruch des Tages erneut über sie zu kommen schien. Und es stellte sich heraus, dass der unnatürliche Wasserteppich kein Ende nahm. Zu Anfang trieben tote Fische in den seltsamen Gewässern. Doch nun herrschte dort nicht einmal mehr der Tod. Als hätte der Ozean beschlossen, alles Leben aus sich herauszuschwemmen, sich das goldene Laken abzustreifen und selbst zu sterben.
Wie zur Bestätigung dieser trüben Vision erreichten Berichte über Tote und Verletzte aus Flotte Eins, Zwei und Vier das Flaggschiff. Kurz darauf erging das allgemeine Verbot, das Wasser zu berühren. Es gab doch tatsächlich Leute, deren Neugier umfassender war als die Vernunft, und diese unerfreuliche Tatsache führte dazu, dass am Ende neunzehn Matrosen ihr Leben lassen mussten. Die Zahl der Verletzten war zehnmal so groß. Die betroffenen Leute wiesen Wunden auf, die Verätzungen ähnelten. Siralen hätte laut geflucht, wenn es ihr auch nur annähernd zu Gesicht stünde, derart unbeherrscht zu sein. Trugen diese Menschen etwa keinen Funken Vorsicht in ihrem Leib?
Am zweiten Tag, an welchem sie nachts in goldenen und tagsüber in schwarzen Wassern gesegelt waren, wurden zudem Meldungen laut, dass sich das Wasser in das Holz der Schiffe zu fressen begann. Die Schiffskörper saugten sich wie Schwämme voll. Noch wusste niemand, was man dagegen tun konnte, und was passieren würde, wenn sie in absehbarer Zeit die schwarz-goldenen Wasser nicht verließen und das Meer wieder wurde, was es seiner Natur nach war.
Furcht begann Menschen und Zwerge gleichermaßen heimzusuchen. Nur um die Elfen und Kentauren blieb es still. Die anderen verlangten danach umzukehren.
„Wenn wir waitersegeln, werden unsere Schiffe sinken“, warnte El’Muluk von der Seeperle-Flotte.
„Die Götter bestrafen uns, wail wir die von ihnen geschaffenen Grenżen missachten. Es ist unsere göttergegebene Pflicht umżukehren“, gab Achmed Al’Badwih seine Einschätzung der Lage zum Besten.
Ähnlich lauteten auch die Urteile der anderen Vizeadmiräle. Nur Alwin Hjellgard aus Flotte Eins und Roella Kalladan aus Flotte Sieben verhielten sich ruhig. Sie fragten lediglich nach weiteren Befehlen und führten diese klaglos aus.
Die Zauberkundigen, die sich um den Informationsfluss zwischen den einzelnen Flotten kümmerten, hatten alle Hände voll zu tun und mussten ohne Pause auf ihren Posten an den dafür vorgesehenen Artefakten bleiben. Dasselbe galt für die Versetzkreise, über die man von einem zum anderen Kommandoschiff wechseln konnte. Sie wurden in diesen Tagen mehr in Anspruch genommen als üblich.
Chara setzte die Gelehrten und Alchimisten darauf an, Wasserproben zu nehmen und zu analysieren. Ahrsa Kasai und eine Handvoll seiner besten Zauberkundigen versuchten indes zu eruieren, ob die Ursache des seltsamen Phänomens magisch war und kamen zu einem negativen Ergebnis. Telos Malakin schickte eine Nachricht, dass die Priester keinen göttlichen Einfluss spürten, dieser aber nicht auszuschließen sei, da ein Gott sein Wirken nicht immer erkennen ließ. Wiederholt hörte man, wie der Götter Namen über die Decks geflüstert wurden. Auch auf der Meerjungfrau gab es einige unter den Matrosen, die in den schwarz-goldenen Gewässern eine Strafe der Götter sahen. Tauron hielt eine Rede vor versammelter Mannschaft, und Siralen stellte erneut fest, dass er für den Posten des Admirals besser geeignet war, als man es bei jemandem wie ihm hätte erwarten können. Er blieb ruhig und überlegt, und selbst Chara hörte seinen Worten aufmerksam zu.
Rasch war gewiss, dass eine neuerliche Lagebesprechung stattfinden musste. Es musste etwas getan werden und zwar schnell. Ansonsten war nicht nur das Sinken ihrer Schiffe zu befürchten, sondern auch eine Meuterei.
Ein Wort zu viel
Als Chara am Morgen aus dem Schlaf fuhr, echoten die Worte noch immer durch ihren Kopf, die sie im Traum dazu gebracht hatten, heftig zu rebellieren. Die Stimme zu den Worten hatte geradezu erheitert geklungen. Und hätte sie nicht erst kürzlich etwas gefunden, das das Leben irgendwie lebenswert machte, sie hätte mitgelacht.
„Etwa Lomond?“, flüsterte ihre innere Stimme und lachte leise.
Wir werden alle sterben …, drängte sich die Stimme aus dem Traum dazwischen.
Na sicher. Aber nicht jetzt.
Wer da im Traum gesprochen hatte, konnte Chara nicht sagen. Doch spätestens jetzt, da sie den Traum zum zweiten Mal geträumt hatte, war sie sich sicher, dass es kein gewöhnlicher Traum war. Und wer, wenn nicht er, hatte den Nerv, in ihren Verstand einzudringen?
Das war nicht Dragati, versuchte sie sich vom Gegenteil zu überzeugen. Langsam setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Lomond war es auch nicht. Aber sonst fiel ihr niemand ein, der eine derartige Begabung hatte, abgesehen von Al’Jebal. Vielleicht war es doch Dragati.
„Doch nicht der neue Gott“, bemerkte die Stimme in ihrem Kopf belehrend.
Sag ich doch, knurrte Chara, stand auf und schlüpfte in ihre Hose.
Aber da war nicht nur eine Stimme gewesen. Später im Traum hatten viele Stimmen dasselbe gesagt, genau genommen hatten sie … gesungen.
Die Planken knarzten unter ihren nackten Füßen, als Chara zu ihrer Truhe schlurfte und ihr abgetragenes Hemd vom Deckel zog. Die Tür ging auf und Nok steckte seinen tätowierten Schädel herein. Das tat er jeden Morgen, sobald er mitbekam, dass sie aufgestanden war. Wenn er dann sah, dass alles zum Besten stand, zog er sich wieder zurück und war selig. Jedenfalls solange, bis Chara ihr sicheres Quartier verließ. Danach war grimmig noch ein Hilfsausdruck für das, was sich im Gesicht des Dad Siki Na abspielte.
Die Tür fiel ins Schloss und Chara zog sich ihr Hemd über. Während sie sich den Gürtel umschnallte, schlich sich ein Bild in ihren Kopf: Stowokor. Der tauchte in letzter Zeit öfter auf. Zur Hölle, sie würde nicht zulassen, dass ihr das Schicksal des Magiers über den Kopf wuchs.
„Es ist dir doch längst über den Kopf gewachsen, Chara. Oder kannst du etwa noch klar denken?“
„Das will ich doch meinen. Wozu hab ich dich?“
„Seit wann hörst du auf mich?“
„Seit jetzt.“
Es half nichts. Sie musste es sich eingestehen. Sie hatte sich eindeutig nicht mehr im Griff. Die Gefühle brachen über sie herein wie eine verdammte Flutwelle. Seit sie sich hatte gehen lassen … in dieser einen verhängnisvollen Nacht mit dem Vampir. Nach allem, was sie sich über die Jahre hinweg aufgebaut hatte, wollte alles aus ihr raus, was da in ihr zuckte, spuckte und schrie. Dabei war der Zorn noch das beste der Gefühle, die sie übermannen wollten. Mit dem Zorn hatte sie bereits gelebt, mit dem Zorn konnte sie umgehen. Der Rest?
Wir werden alle sterben …
Es ist jetzt nicht mehr weit.
Die Zeichen stehen auf Ende
Auch ihr seid nicht gefeit. 
„Ein verdammter Männerchor war das“, fluchte Chara, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ die Kajüte. Sofort hatten Nok und Iti sie in ihre Mitte genommen. Nok war so gut wie immer bei ihr. Chara fragte sich, wann er eigentlich schlief und ob er es je tat. Vermutlich tat er es, wenn sie sich selbst gerade unruhig im Bett wälzte, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er auch dann häufig Wache hielt. Es stand jedenfalls fest, dass es Nok war, der das Sagen unter den Dad Siki Na hatte. Sie hatte einmal versucht, mit ihm zu reden. Aber er war noch verschlossener als sie. Was nachvollziehbar war. Immerhin musste er Das Tier in dir am Schweigen halten. Siki Ka Tri Ida Di …
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