Sophie, die jüngste der Fürstinnen, betrachtete ihn lachend und versenkte dann wieder das Gesicht in das Taschentuch. Nach einem zweiten Blick auf Peter aber fühlte sie sich unfähig, noch länger den Ernst zu bewahren und zog sich hinter eine der Säulen zurück. Mitten in der Zeremonie verstummten plötzlich die Stimmen, die Priester flüsterten sich etwas zu. Der alte Diener, welcher die Hand des Grafen unterstützte, richtete sich auf und winkte nach den Damen. Sogleich trat die Fürstin Drubezkoi vor, beugte sich zu dem Sterbenden herab und winkte den Doktor Lorrain herbei. Er näherte sich leise, ergriff die Hand, welche auf der Decke lag, suchte den Puls und versenkte sich in seine Berechnung. Man drängte sich um ihn, man befeuchtete die Lippen des Sterbenden mit einem Erfrischungsmittel. Dann wurde die Zeremonie fortgesetzt. Während dieser Unterbrechung sah Peter, wie der Fürst Wassil seinen Stuhl verließ, sich der älteren Nichte näherte und mit ihr in den Hintergrund des Alkovens trat, worauf sie an dem großen Bett vorübergingen und durch eine kleine Tapetentür verschwanden. Noch war der Gottesdienst nicht beendet, als sie ihre Plätze wieder eingenommen hatten. Dieser Umstand erweckte die Neugierde Peters nicht, denn er war an diesem Abend überzeugt, daß alles, was vorging, so sein müsse. Der Gesang hörte auf und der Geistliche richtete Glückwünsche an den Sterbenden. Aber dieser lag noch immer regungslos da. Es entstand wieder Unruhe, man ging hin und her und flüsterte. Peter hörte, wie die Fürstin Drubezkoi leise sagte: »Man muß ihn durchaus wieder in sein Bett bringen, sonst ist es unmöglich …«
Die Ärzte, die Nichten und die Diener umgaben den Sterbenden, welcher dadurch den Blicken Peters entzogen wurde. Er sah nur, daß man ihn aufhob. Die Diener kamen an dem jungen Mann vorüber, und er konnte während eines Augenblicks inmitten der Gruppe die mächtige Brust des Sterbenden, seine Schultern und seinen Kopf mit der Löwenmähne sehen, welcher während des ungleichen Ganges der Träger schwankte.
Nach einigen Augenblicken der Geschäftigkeit um das Bett zogen sich die Diener zurück. Die Fürstin berührte Peter leicht mit der Fingerspitze. »Kommen Sie!« sagte sie.
Er gehorchte. Man hatte dem Kranken durch Kissen eine aufrechte Lage gegeben, seine Hände lagen auf der grünen Decke und er sah gerade vor sich hin, mit jenem leeren Blick, den niemand beschreiben noch verstehen kann. Hatte er nichts zu sagen oder hatte er viel zu sagen? Peter blieb vor dem Bett stehen, ohne zu wissen, was er tun sollte, und richtete einen fragenden Blick auf seine Führerin, welche mit einer kaum merklichen Bewegung nach der Hand des Sterbenden wies und ihm ein Zeichen machte, dieselbe zu küssen. Peter bückte sich vorsichtig herab und drückte die Lippen auf die große Hand des Grafen.
Kein Muskel zuckte auf dieser Hand noch auf dem Gesicht. Unschlüssig richtete Peter wieder den Blick auf die Fürstin, welche ihm ein Zeichen gab, sich auf den Lehnstuhl zu Füßen des Bettes zu setzen. Er setzte sich, ohne den Blick von ihr abzuwenden, sie senkte bestätigend den Kopf. Etwas beruhigt dadurch, aber sichtlich durch seine gewöhnliche Unbeholfenheit beengt, bemühte er sich, so wenig Platz als möglich einzunehmen und hielt die Blicke auf die Züge des Sterbenden gerichtet. Auch die Fürstin ließ ihn nicht aus den Augen, überzeugt von der Wichtigkeit dieses letzten und rührenden Zusammenseins von Vater und Sohn.
Kaum waren zwei Minuten verflossen, welche Peter wie eine Stunde erschienen, als das Gesicht des Grafen plötzlich durch einen Krampf verzogen wurde und ein dumpfes Röcheln folgte. Das war für Peter das erste Anzeichen eines baldigen Endes. Die Fürstin Drubezkoi suchte die Wünsche des Sterbenden an seinen Augen abzulesen. Sie deutete bald auf Peter, bald auf Fürst Wassil, bald auf die Decke, aber alles war vergebens. Die Blicke des Kranken richteten sich starr auf den Kammerdiener am Fußende.
»Er verlangt, man solle ihn umdrehen«, murmelte der Diener.
Peter wollte ihm helfen, und es war ihm eben gelungen, als ein Arm des Grafen schwerfällig zurückfiel, ungeachtet der vergeblichen Anstrengung des Kranken, ihn wieder an sich zu ziehen.
Hatte er den Schrecken, der sich auf dem bestürzten Gesicht Peters beim Anblick dieses gelähmten Gliedes zeigte, bemerkt, oder ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf? Wer kann es sagen? Er betrachtete bald diesen ungehorsamen Arm, bald das entsetzte Gesicht seines Sohnes, und ein trübes, seltsames Lächeln erschien auf seinen Lippen. Beim Anblick desselben fühlte Peter sein Herz zittern, Tränen stiegen ihm in die Augen.
Nachdem man den Kranken nach der Seite gewendet hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus.
»Er ist eingeschlummert«, sagte die Fürstin Drubezkoi zu einer der Nichten. »Gehen wir!« Und Peter folgte ihr nach.
Im großen Empfangssaal waren der Fürst Wassil und die ältere Fürstin in lebhaftem Gespräch zurückgeblieben. Sobald sie Peter und seine Führerin erblickten, verstummten sie, das Fräulein suchte etwas zu verbergen, wie es Peter schien, und flüsterte: »Ich kann dieses Weib nicht ausstehen!«
»Käthchen ließ Tee im kleinen Nebensaal auftragen«, sagte Fürst Wassil zu Fürstin Drubezkoi. »Sie sollten auch dahin gehen, meine arme Fürstin, und sich stärken, sonst reiben Sie sich auf.«
Zu Peter sagte er nichts und drückte ihm nur mit Gefühl den Arm unter der Schulter. Peter ging mit der Fürstin in den kleinen Nebensaal.
»Nichts restauriert so sehr nach einer schlaflosen Nacht als ein Tässchen von diesem vortrefflichen russischen Tee«, sagte Lorrain, welcher mit einer feinen chinesischen Tasse in der Hand in einem kleinen, runden Nebensaal am Tische stand, auf welchem die Teemaschine und kalte Küche aufgetragen war. Alle im Hause des Grafen Besuchow in dieser Nacht Anwesenden hatten sich hier versammelt, um ihre Kräfte zu stärken. Auf einem kleinen kerzenerhellten Tischchen standen Teezeug und Teller in Unordnung umher, und eine bunte Menge saß daran, unterhielt sich flüsternd und zeigte mit jeder Bewegung, jedem Wort, daß niemand vergesse, was jetzt im Schlafzimmer vorging.
Peter aß nicht, obgleich er Hunger hatte. Suchend blickte er sich nach seiner Führerin um, und als er sah, daß sie auf den Zehenspitzen wieder in den großen Saal ging, wo Fürst Wassil mit der älteren Fürstin zurückgeblieben war, folgte er ihr nach einigem Zögern dorthin. Die Fürstin Drubezkoi stand dem Fräulein gegenüber und beide sprachen zu gleicher Zeit in leisem, aber sehr erregtem Ton.
»Seien Sie versichert, Fürstin, ich weiß, was nötig und was nicht nötig ist«, sagte das Fräulein, augenscheinlich in demselben aufgeregten Zustand wie vorhin, als sie die Tür ihres Zimmers zugeschlagen hatte.
»Aber liebste Fürstin«, sagte Anna Michailowna milde und begütigend, indem sie den Weg zum Schlafzimmer vertrat und die junge Fürstin nicht vorüberließ. »Wird das nicht zu schwer für den armen Onkel sein, der der Erholung so sehr bedarf, in solchen Augenblicken von weltlichen Dingen zu sprechen, wo seine Seele schon vorbereitet ist?«
Fürst Wassil saß auf dem Stuhl mit übergeschlagenen Beinen und schien sich um das Gespräch der beiden Damen wenig zu kümmern.
»Nein, meine liebe Anna Michailowna, lassen Sie Käthchen machen, Sie wissen, wie sehr der Graf sie liebt!« sagte sie.
»Ich weiß nicht einmal, was in dieser Mappe ist«, sagte das Fräulein zu dem Fürsten Wassil, indem sie auf die Mosaikmappe deutete, die sie in den Händen hielt. »Ich weiß nur, daß das wirkliche Testament sich in seinem Schreibtisch befindet. Dies aber sind nur vergessene Papiere!« Sie wollte an der Fürstin vorübergehen, aber diese vertrat ihr den Weg. »Ich weiß, meine liebe, gute Fürstin«, sagte Anna Michailowna, indem sie nach der Mappe griff und sie festhielt, augenscheinlich mit der Absicht, sie nicht wieder loszulassen. »Meine liebste Fürstin, ich bitte Sie, ich flehe Sie an, schonen Sie ihn!«
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