Die „Gebildeten“ hielten es für ihre Pflicht, über diese Tendenzen erhaben zu lächeln. Der Traum wurde als ein müßiges Spiel einer vom Bewusstsein nicht gelenkten Phantasie betrachtet. Allerdings hätte die einfache Überlegung sagen müssen: Auch in dieser verzerrten Form handelt es sich um psychisches Rohmaterial. Lasst uns nachsehen, was wir daraus gewinnen können. Hie und da fanden sich auch Forscher, die den Versuch wagten, das Rätsel des Traumes zu lösen. Mehr als glückliche Anfange und missglückte Theorien kamen nicht zutage. Es ist das unsterbliche Verdienst von Freud, dieses große Werk in Angriff genommen und siegreich durchgeführt zu haben. Mit seinem grundlegenden Werke „Die Traumdeutung“ (F. Deuticke, III. Aufl. 1911) beginnt eine neue Epoche der Traumwissenschaft.
Die neue große These, die Freud aufgestellt hat, hieß: Der Traum ist eine Wunscherfüllung. Diese neue Erkenntnis stützte er durch eine große Reihe von geistreichen Traumanalysen. Er zeigte, dass die Sprache des Traumes gewissen Gesetzen unterworfen ist und durch den Prozess der Traumentstellung unkenntlich gemacht wird. Er bewies, dass der Unsinn der Träume nur ein Schein ist, der dazu dient, den wahren Sinn zu verbergen. Wir sollen nicht erfahren, was wir bei Nacht denken.
Auf diese Erkenntnisse kam er bei seinen Studien über die Hysterie und über die anderen Neurosen. Er führte einen neuen Begriff in die Medizin ein: der Unbewusste. Wer sich nur um die Regungen des Bewusstseins bekümmerte, für den war der Traum in der Tat ein nebensächliches psychisches Produkt. Dem Forscher, der an unbewusste Regungen glaubte, musste sich der Traum als wichtigstes unbewusstes Gebilde aufdrängen.
Bestand die neue Lehre von Freud darin, dass man hinter den neurotischen Symptomen unbewusste Vorstellungen finden konnte, so musste gerade der Traum einen Zugang zu diesen unbewussten psychischen Gebilden verschaffen können.
Diese Voraussetzungen erfüllen sich im reichsten Maße. Heute ist die „Traumdeutung“ ein wichtiger Bestandteil der Psychoanalyse. Heute muss sich der Arzt mit der Traumdeutung beschäftigen, wenn er auch Seelenarzt sein will. Und wie könnte ein wahrhafter Arzt etwas anderes sein wollen als ein Seelenarzt? ...
Es ist nicht so leicht, sich diese Kenntnisse anzueignen. Es bedarf darin einer eigenen Schulung und großer Ausdauer. Es bedarf gewissenhafter Nachprüfung der bisher gefundenen Resultate, bis man einmal selbst eine Überzeugung gewonnen hat und an die Dinge glaubt.
Die eigene Schulung zum Lesen des Traumes besteht in einer veränderten Auffassung der Sprache, in einem Aufspüren der Zweideutigkeiten und einer Kenntnis der Symbolismen und Vorgänge der Traumentstellung.
Die Bedeutung der Symbolik für das menschliche Leben wird noch immer unterschätzt. „Alle Kunst ist Symbolik“, sagt Feuchtersleben. „Als die wichtigste Aufgabe meines Lebens“, sagt Hebbel, „betrachte ich die Symbolisierung meines Innern.“
Wir sind durchsetzt von Symbolik. Die Sprache, die Gebräuche, die Gesten, die Gedanken sind mehr oder minder versteckte Symbolismen. Es ist das Verdienst von Rudolf Kleinpaul, in verschiedenen Werken, besonders in seiner „Sprache ohne Worte" und in dem groß angelegten Werke „Das Leben der Sprache“ (Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1888) die ungeheure Bedeutung von Symbolismen für das Leben nachgewiesen zu haben.
Was ist eigentlich ein Symbol?
Ricklin (Schriften zur angewandten Seelenkunde. II. Franz Deuticke. Wien und Leipzig. 1909) sagt: „Ein Symbol ist ein Zeichen, eine Abkürzung für etwas Kompliziertes. Wenn ich im Fahrtenplan ein Posthorn neben dem Stationsnamen sehe, so sagt es mir, dass die Station eine Postverbindung hat nach Orten, die nicht an der Bahnlinie liegen.“
„Dem Symbol ist aber noch viel mehr eigen. Warum steht im Fahrplan für den Begriff ‚Postverbindung‘ und was damit zusammenhängt nicht irgendein anderes Zeichen? Das Posthorn ist etwas, was ursprünglich zur Post gehörte. Obwohl es kein nötiger Bestandteil derselben ist, so war es früher eine der sinnfälligsten Merkmale derselben, weniger fürs Auge, als für das Ohr. Wir haben also schon wieder zwei neue Momente, welche dem Symbol zukommen. Das zum Symbol gewählte Zeichen steht zum Bezeichnenden in einem assoziativen inneren oder äußeren Zusammenhang und es ist sinnenfällig. Ferner ist es umso mehr zum Symbol geeignet, als Geschichte und Entwickelung an ihm sind, wobei es aber meist nicht ohne Bedeutungswandel abgeht. Gegenwärtig sind die schönen Zeiten bei uns wohl so ziemlich vorbei, wo der Postillion lustig ins Horn blies. — Das Horn als Zeichen ist aber geblieben, im Fahrplan, beim Militär als Abzeichen der Feldpost und noch an vielen anderen Orten.“
„Mit dem Begriff Symbol ist meist auch etwas Geheimnisvolles verbunden. Symbole werden oft gebraucht als Erkennungszeichen für geheime Gesellschaften, nennen wir z. B. das Abzeichen der Freimaurer. Das Geheimnisvolle liegt auch darin, dass nur der Eingeweihte die Bedeutung des Symbols kennt. Das war z. B. der Fall mit der Runenschrift, welche nur bestimmte Leute lesen konnten; das gibt auch den kirchlichen Zeremonien ihre zauberhafte Wirkung auf die empfängliche Seele. Schon die Entwickelung und die damit verbundene Wandlung in der Bedeutung tragen dazu bei, dass nur der Eingeweihte den vollen Sinn des Symbols zu erkennen vermag.“
„Weil das Symbol nur ein Zeichen ist, nur ein Teil des ursprünglich Darstellenden, so ist gerade während seiner weiteren Entwickelung gegeben, dass es allmählich das Zeichen wird für verschiedene Dinge: das Posthorn kann je nach dem Ort, der Umgebung, im psychologischen Sinne je nach den damit verknüpften Assoziationen verschiedenes bedeuten: Fahrpostverbindung, wenn es beim Stationsnamen im Fahrplan steht, Briefpostverbindung, wenn es auf einem Einwurf steht. Im abgelegenen Gebirgsdorf bedeutet es noch viel mehr und auf dem Ärmel einer Uniform wieder etwas anderes.“
„Durch diese Summierung der Bedeutungen kommt es auch dazu, dass das Zeichen eine Verdichtung und eine Häufung aller dieser einzelnen Vorstellungen in sich birgt. Das charakterisiert z. B. das Traumsymbol, in das tausend Assoziationsfäden zusammenlaufen. Es kommt gleichzeitig auch zu einer Vielseitigkeit des Symbols, der „dunkle Sinn" kann auf alle mögliche Art ausgelegt werden. Wer nicht eingeweiht ist und das Symbol nicht nach allen Richtungen kennt, legt es falsch oder nur nach seinem Sinne aus. Die Bibel z. B. hat den Vorzug und Nachteil, dass sie viele Symbole enthält, die in verschiedenstem Sinne ausgelegt werden.“ (Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen)
Ohne die Kenntnis der Symbolik ist die Traumdeutung unmöglich. Der große Irrtum der modernen Traumforscher bestand gerade in dem Umstande, dass sie sich mit der Symbolik nicht befreunden konnten. Darin waren uns die Alten überlegen. Wie herrlich ist die Symbolik des Traumes in der Bibel dargestellt! Und wie vollendet erscheint die Symbolik bei Artemidoros aus Daldis, dessen Buch „Die Symbolik der Träume (In vortrefflicher deutscher Übersetzung von Friedr. S. Krauss bei Hartleben in Wien (1881) erschienen. Leider fehlt das wichtigste Stück: Die Symbolik der Geschlechtsvorgänge.) noch heute für den Psychoanalytiker lesenswert ist!
Ehe wir mit der Darstellung der Traumdeutekunst beginnen, wollen wir uns kurze Zeit mit den Träumen der Bibel und mit der Deutekunst der Griechen befassen. Ich wüsste keine schöneren Beispiele zur Einführung in die Symbolik des Traumes.
Am bekanntesten ist ja die Traumdeutekunst Josefs aus dem ersten Buch Moses. Josef verdankte seine große Stellung nur seiner außerordentlichen Fähigkeit, die Träume seines Herrschers treffend deuten zu können. Der erste Traum, den er seinen Brüdern erzählte, lautet:
(1.) „Wir banden Garben auf dem Felde und meine Garbe richtete sich auf und stand; und eure Garben wieder neigten sich vor meiner Garbe.“
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