»Danke«, sagte ich.
»Wofür?«, antwortete er mit einem flüchtigen Lächeln. »Glaubst du, dass ich Lust hatte, allein weiterzureisen? Komm! Wenn du wieder zu Atem gekommen bist, wollen wir weitermachen. Du bist durchgefroren und musst dich bewegen. Sieh, mein Gewehr ist zerbrochen, und deins liegt irgendwo unter dem Schnee. Na schön, das erspart uns die Mühe, die Munition schleppen zu müssen.« Er lachte sarkastisch.
Wir begannen unseren Marsch zu der Stelle, an der die alte Straße vor der Schlucht endete, etwa vier Meilen weit entfernt, weil ein Weitergehen in die andere Richtung sinnlos erschien, und wir erreichten sie auch ohne Zwischenfall. Einmal donnerte eine Lawine von der Größe einer Kirche dicht vor uns zu Tal, und einmal löste sich ein Felsen aus dem Hang und kam mit der Geschwindigkeit eines angreifenden Löwen auf uns zugerast, sprang über unsere Köpfe hinweg und verschwand in der Tiefe der Schlucht. Doch wir nahmen von diesen Dingen kaum Notiz; unsere Nerven schienen von den Ereignissen der vergangenen Nacht betäubt und unempfindlich zu sein gegen jede Gefahr.
Wir standen am Ende der Straße und sahen unsere eigenen Fußabdrücke und die Hufspuren des Yaks im Schnee. Ich blickte eine ganze Weile auf diese Spuren, denn es kam mir seltsam vor, dass wir lebten und sie noch einmal sehen sollten. Dann starrten wir über den Rand des Abgrunds. Ja, seine Wand war steil und glatt und unbezwingbar.
»Komm, wir gehen zum Gletscher!«, sagte Leo.
Also gingen wir zum Gletscher, krochen ein kleines Stück an ihm hinab und überprüften seinen weiteren Verlauf. Soweit wir es erkennen konnten, war die Schlucht hier etwa vierhundert Fuß tief. Doch ob die Eiszunge bis zu ihrem Grund reichte, konnten wir nicht erkennen, da sie sich in ihrem letzten Drittel nach innen wölbte, wie das Ende eines gespannten Bogens, und wir deshalb ihr Ende nicht sehen konnten. Wir kletterten wieder auf den festen Boden zurück und setzten uns, von Resignation und Verzweiflung gepackt.
»Was sollen wir tun?«, fragte ich. »Vor uns liegt der sichere Tod, genau wie hinter uns, denn wie sollten wir die Berge überwinden, ohne Nahrung, und ohne Gewehre, um Wild zu schießen? Wir werden hier sterben, Leo; wir werden hier sitzen, bis wir verhungern. Wir haben getan, was wir konnten - und sind gescheitert. Wir sind am Ende, Leo! Nur noch ein Wunder könnte uns retten.«
»Ein Wunder«, antwortete er. »Was war es denn, das uns auf das Plateau des kleinen Berges geführt hat, wodurch wir die Lawine überlebt haben? Und was war es, das den Fels unter deine Füße brachte, als du in der Schneewehe versankst, und was hat mir die Geistesgegenwart und die Kraft verliehen, dich aus deinem Schneegrab zu retten? Und was hat uns siebzehn Jahre lang Gefahren überstehen lassen, wie sie wohl kaum zwei andere Menschen durchgemacht haben? Eine leitende Macht, sage ich dir! Ein Geschick, das sich in uns verwirklichen will. Warum sollte diese Macht uns jetzt nicht mehr leiten? Warum sollte das Geschick jetzt seine Hand von uns nehmen?«
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er entschlossen fort: »Ich sage dir eins, Horace: Selbst wenn wir Gewehre, Nahrung und Yaks hätten, würde ich nicht kehrt machen, denn ein Aufgeben würde mich als Feigling entlarven und mich ihrer unwürdig machen. Ich mache weiter.«
»Wie?«, fragte ich.
»Über diesen Weg.« Er deutete auf den Gletscher.
»Dieser Weg führt in den Tod!«
»Und wenn schon, Horace. In diesem Land finden Menschen Leben im Tod, jedenfalls glauben sie das. Wenn wir jetzt sterben, dann bei der Verfolgung unseres Ziels, auf der Straße, die direkt zu ihm führt, und in dem Land, in dem wir, sollten wir sterben, vielleicht wiedergeboren werden. Ich habe meinen Entschluss gefasst, du musst dich entscheiden, was du tun willst.«
»Ich habe meine Entscheidung vor vielen Jahren getroffen, Leo, als wir diese Reise gemeinsam begannen, und deshalb werden wir sie auch gemeinsam beenden. Vielleicht weiß Ayesha von unserer Lage und wird uns helfen. Wenn nicht...« Ich lachte bitter. »Komm, wir verschwenden nur Zeit!«
Wir berieten uns, und das Ergebnis dieser kurzen Besprechung war, dass wir das zähe Fell des Yak in schmale Streifen schnitten und diese zu zwei recht brauchbaren Seilen zusammenknoteten, die wir uns um den Leib banden. Vielleicht konnten sie uns den Abstieg über den Gletscher erleichtern.
Anschließend schnitten wir eine unserer Decken in Stücke und banden diese um unsere Beine und Knie, damit sie vor den scharfen Kanten von Eis und Fels geschützt waren, und zogen aus demselben Grund unsere dicken Lederhandschuhe über. Nachdem das erledigt war, verschnürten wir den Rest unserer Habe zu Bündeln, beschwerten sie mit Steinen und warfen sie über den Rand des Abgrunds, in der Hoffnung, sie dort unten wiederzufinden, falls wir den Boden lebend erreichen sollten. Jetzt waren unsere Vorbereitungen abgeschlossen, und es wurde Zeit, dass wir zu dem vielleicht gefährlichsten Unternehmen aufbrachen, das Männer jemals freiwillig auf sich genommen haben.
Doch wir zögerten noch ein wenig und blickten einander schweigend an, denn wir waren unfähig, zu sprechen. Wir umarmten einander, und ich weinte ein wenig, muss ich gestehen. Es kam mir alles so traurig und hoffnungslos vor, diese Sehnsucht, die wir über so viele Jahre hinweg mit uns herumgetragen hatten, dieses ständige, ermüdende Reisen, und jetzt - das Ende. Mir war der Gedanke unerträglich, dass dieser wunderbare Mann, mein Schützling, mein geliebter Freund, der Gefährte meines Lebens, der jetzt so voller Leben neben mir stand, innerhalb weniger Minuten in einen zerfetzten Kadaver verwandelt werden sollte. Auf mich kam es nicht an. Ich war alt, und meine Zeit war abgelaufen. Ich hatte ein Leben in Unschuld gelebt, falls man es Unschuld nennen kann, dieser wunderbaren Frau zu folgen, dieser Sirene der Höhlen, die uns in unser Verderben gelockt hatte.
Nein, ich glaube nicht, dass ich damals an mich gedacht habe; doch ich dachte viel an Leo, und als ich seinen entschlossenen Gesichtsausdruck sah, den harten Glanz seiner Augen, war ich stolz auf ihn. Ich segnete ihn mit versagender Stimme, wünschte ihm Glück während aller Äonen und betete, dass ich bis zum Ende der Zeit sein Begleiter sein möge. Er dankte mir mit wenigen, kurzen Worten und murmelte dann: »Komm!«
Seite an Seite begannen wir den entsetzlichen Abstieg ins Unbekannte. Anfangs erwies er sich als nicht besonders schwierig, obwohl jedes Abgleiten uns in den Abgrund geschleudert haben würde. Doch wir waren kräftig und geschickt und an solche Situationen gewöhnt und begingen keine Fehler. Als wir etwa ein Viertel des Gletschers hinter uns gebracht hatten, machten wir eine kleine Pause. Wir standen auf einem großen Felsblock, der in die Oberfläche des Eises eingebettet war, und blickten vorsichtig in die Tiefe. Die Schlucht war grauenvoll, mit steilen Wänden, und auch von hier aus konnten wir nicht erkennen, wie es dort unten aussah, denn unter uns, etwa hundertzwanzig Fuß tiefer, begann die Biegung der langen Eiszunge, auf der wir standen, und verwehrte uns die Sicht auf den Grund der Schlucht.
Da wir das Gefühl hatten, dass unsere Nerven ein weiteres Nachdenken über das unerkennbare Dunkel nicht mehr ertragen würden, ließen wir uns wieder auf Hände und Knie nieder und setzten unseren Abstieg fort. Jetzt war er bedeutend schwieriger, denn in dem unteren Teil des Gletschers wurden die im Eis eingefrorenen Steine seltener, und zwei- oder dreimal mussten wir ein Stück über das abschüssige Eis gleiten, um sie zu erreichen, ohne zu wissen, ob sie uns rechtzeitig aufhalten würden. Doch wir hatten die Seile an den Felsen befestigt, die Ausgangspunkt unserer Rutschpartie waren, und zogen sie nach uns ein, wenn wir den nächsten Festpunkt erreicht hatten.
Auf diese Weise erreichten wir schließlich die Biegung, die sich etwa auf halber Höhe des Gletschers befand, eher noch etwas darunter, soweit ich das feststellen konnte, und etwa hundertfünfzig Fuß über dem dunklen Boden der Schlucht. Hier gab es keine eingebetteten Steine mehr, sondern nur ein paar Stellen, an denen das Eis etwas rau war, und an so einer Stelle setzten wir uns und ruhten uns aus.
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