Und das alles nur deshalb, weil die Menschen nicht begriffen, dass ihre heiligen Regeln von Menschen aus anderen Zeiten festgelegt wurden, die heute einfach nicht mehr vollziehbar waren. Denn auch Gott, der innere Gott, hatte sich entwickelt.
„Vielleicht gibt es über den Göttern noch eine höhere Macht, die nicht angebetet wird“, fuhr der Heide fort, „denn sie ist mehr als ein einfacher Gott. Vielleicht ist sie in uns, oder aber sie ist wirklich da draußen und ist wirklich die absolute Macht. Wie frei muss sie sein, denn keine Religion hält sie gefangen. Wie frei können die sein, die um diese Macht wissen. Denn ist doch alles, was sie tun, genau im Sinne dieser Macht. Sie spricht zu uns allen, gibt uns allen die Satzung mit, nach der wir leben. Keiner kann festschreiben, was gilt. Spürt doch jeder in seinem eigenen Herzen, was für ihn das richtige ist.“
Nikarion war zufrieden mit den Antworten, die der Heide ihm gab. „Du bist ein sehr kluger Mensch, Heide. Du scheinst voll und ganz in der Weisheit der Alten aufzugehen. Verrate mir, wie man wissen kann, ob man richtig handelt? Wie kann man sicher sein, das Richtige zu tun?“
Und der Heide gab Antwort: „Es gibt eine einfache aber gute Regel, nach der du dein Leben ausrichten kannst. Sie lautet schlicht: Lade keine Schuld auf dich. Tue nichts, wodurch du dich verschuldigst. Denn einerseits belastest du dich so und die Welt um dich herum. Und andererseits wird jede Schuld gesühnt werden. Handle falsch, und dir wird Böses widerfahren.“
„Aber wie kann man sich sicher sein, was Schuld ist?“, fragte Nikarion nach. „Wie kann man sie erkennen? Oft ist es doch so schwer, zu entscheiden, was zu tun ist.“
Ohne lange zu überlegen sagte sein Gegenüber: „Wenn du Schuld auf dich lädst, dann spürst du das. Denn Schuld wiegt schwer auf deinem Gewissen. Spürst du eine solche Last, dann weißt du, was sie bedeutet. Es heißt, dass du etwas getan hast, was du nicht hättest tun sollen. Und es bedeutet, dass die Sache wieder in Ordnung kommen muss.“
Der Sucher nickte zufrieden. Das schien ihm ein kluger Rat zu sein, den er in Erinnerung behalten würde. Eine letzte Frage musste er dem Heiden aber noch stellen, der so zufrieden dastand und den scheinbar keine Sorgen plagten. „Verrate mir noch eines: Hast du nie Zweifel? Ist für dich wirklich alles so einfach?“
„Ob ich Zweifel habe? Es gibt keine Sicherheiten. Die Welt kennt keine Realität. Nichts, das echt ist. Überall mischen sich Zweifel und Hoffnung ein und rütteln an den Grundfesten der Welt. Sie sind der Niddhögger, der an der Wurzel des Weltbaumes nagt und sie eines Tages zum Einsturz bringen wird. Eines Tages wird alles wieder in Trümmern liegen müssen, wenn Neues entstehen soll.“
Von der Seite sprach der Zweifel in Nikarions Ohr: „Oh, wie theatralisch. Ich weiß nicht, ob ich verzweifelt oder betroffen sein soll.“
Nikarion bedankte sich beim Heiden, dass dieser sein Wissen mit ihm geteilt hatte. „Nun werde ich weiterziehen.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Mögen die Götter dir gewogen sein und dich auf deinem Weg beschützen“, wünschte ihm der Heide zum Abschied. „Traurig wäre es, würde dir ein Missgeschick widerfahren.“
Nikarion verließ den gastlichen Feuerschein des Heiden und trat mit seinem Begleiter, dem Zweifel, wieder in die Finsternis der Nacht.
„Eine interessante Religion, an die er da glaubt“, sagte der Zweifel. „Doch ist sie nur noch der Nachhall der Vergangenheit, besitzt außer der Geschichte selbst keine Macht mehr. Sie ist längst überholt und verdrängt worden, aus gutem Grund. Die andere Religion hat sich als stärker erwiesen.“
Nikarion zuckte bei diesen Worten zusammen. Der Zweifel hatte recht. So zufrieden der Heide auch gewirkt hatte, es gab keinen Weg, um ihm zu folgen. „Man muss die Vergangenheit kennen, will man die Gegenwart verstehen. Und nun fort von hier. Ich habe genug vom Glauben. Bring mich zu einem, der seine Weisheit abseits der Religion gefunden hat.“
„So will ich dich nun zu einem Selbstheiligen bringen“, sagte der Zweifel.
Gemeinsam verließen sie die Nacht und reisten ans andere Ende der Welt.
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