Das Gemach trug noch allenthalben das Gepräge seiner früheren Herrin. Überall standen wunderliche, nutzlose Sächelchen umher, die sich um einsame alte Frauenzimmer anzusammeln pflegen: unbegreifliche Ungeheuer aus Wolle und Seide, bunte Porzellanfigürchen, ganz zwecklose Körbe aus Schmelzen, verwitterte Papierblumen, die vielleicht einst jemanden geschmückt oder an irgend etwas erinnert hatten; jetzt standen sie abgeschmackt und nichtssagend da und wußten nicht, warum sie auf der Welt seien; verstaubt und unbeachtet waren sie, tot – wie ihre Herrin.
Viele breite, schwerfällige Möbel aus Mahagoniholz, mit einem Überzug von schwarz und rotem Wollenstoff, beengten das Gemach. Ein Daguerreotyp, den Schustermeister Herz darstellend, hing über der Kommode; man konnte darauf jedoch nur den großen weißen Halskragen unterscheiden. Auf der Kommode stand die Familienbibliothek: sechs Bände Zschokkes Novellen, Arenths Andachtsbuch, Schillers Gedichte und drei Jahrgänge einer illustrierten Zeitschrift. Unter manchen Reliquien aus der Zeit des Fräulein Ina lag auch ein kleiner weißer Atlasschuh, an der Spitze mit einer Rosenknospe geschmückt. Er war das einzige, was Rosa von ihrer Mutter geerbt hatte.
Neben dem Wohngemach befand sich das Speisezimmer, ein schmales Rechteck; sechs Rohrstühle, ein runder Eichentisch, ein Schrank mit Glastüren und ein großes Buffet aus Birnholz füllten den Raum, in dem Herr Herz und seine Tochter sich zum Mittagsmahl niedersetzten.
Herr Herz schöpfte die Suppe vor und zerlegte sehr gewandt den Braten, dabei war er eifrig um die Unterhaltung bemüht. »Heute«, sagte er und legte Rosa ein Stück Braten auf den Teller, »während ich draußen im Hof Unterricht erteilte, sah ich eine verdeckte Kutsche den Weg hinabfahren. Du hast wohl nichts gehört?«
»Nein. Jemand vom Lande?« bemerkte Rosa.
Herr Herz schüttelte ungläubig den Kopf: »Um diese Zeit! Weiß es Gott! Ich muß später zu Klappekahl hinüber, der wird es wissen.«
Rosa war schweigsam. Ihr Vater bemerkte das wohl und fragte nach der Veranlassung, aber Rosa erwiderte, es sei nichts; sie dächte über die Kutsche nach. »Ja, merkwürdig!« plauderte Herr Herz fort. »Wie ich aus der Schule komme, begegnet mir Lanin.« Herr Herz schaute seine Tochter erwartungsvoll an, als müßte diese Nachricht Eindruck auf sie machen; Rosa jedoch bemerkte nur trocken: »So! Sprach er von seiner dummen Tochter?«
»Dummen Tochter! Rosa, wie du sprichst!« Herr Herz lachte, als wäre das ein guter Witz gewesen. »Nein«, fuhr er dann fort, »er teilte mir aber mit, daß nächstens ein junger Mensch, ein Verwandter von ihm, in das Geschäft kommt.«
»Noch einer? Hat er denn mit dem Korinthen-Konrad nicht genug?«
»Mit diesem hat es seine Bewandtnis. Der junge Herr scheint ein wenig wild gewesen zu sein...«
»Ah, was hat er getan?«
»Gott, in der Jugend, da kommt manches vor! Genug, er soll hier gebessert werden. Als ich vorhin dort am Fenster stand, dachte ich darüber nach, ob Lanin bei der ganzen Geschichte nicht etwas für seine Tochter im Sinn hat, für die Sally.«
»Die!« rief Rosa und lachte, weil jedem jungen Mädchen jeder Heiratsplan außer ihrem eigenen lächerlich erscheint. »Du vergißt, Vater, daß Sally schielt.«
»Pah!« meinte Herr Herz, »ich habe manche Schönheit gekannt, die schielte. Viele lieben das sogar.«
»Es wäre ein Glück für die arme Sally; aber ich zweifle...« sagte Rosa und hob die Tafel auf. Während sie voran in das Wohngemach schritt, wandte sie sich in der Türe um und fragte mit einem gleichgültigen Zucken der Augenbrauen: »Vater! Wie soll denn dieser neue Korinthen-Konrad heißen?«
»Ambrosius Tellerat. Er ist ein Brudersohn von ihr – der Lanin. Die Frau Lanin ist eine geborene Tellerat, wie du weißt.«
»Ach ja!«
Als Vater und Tochter im Wohngemach auf den breiten Sesseln nebeneinander saßen, bemerkte Rosa nachdenklich: »Ich glaube nicht, daß dieser – Ambrosius sie nimmt.« – »Ja, ja«, erwiderte Herr Herz darauf, ohne daß es schien, als dächte er sich etwas dabei. Bequem rückte er seinen Kopf auf der Lehne des Sessels zurecht und schloß die Augen zu seinem Nachmittagsschlummer. Die Sonne badete das kleine Gesicht des alten Mannes in gelbem Feuer, entzündete in den greisen Augenbrauen leuchtende Pünktchen und wärmte die eingefallenen Wangen, daß sie zu glühen begannen wie die Wangen eines schlafenden Kindes. Die Fliegen trieben im Gemach ihr lautes Wesen und stießen ärgerlich summend gegen die Fensterscheiben. Lange Staubsäulen zogen ihre trüben Bänder durch das Zimmer.
Rosa lag in ihrem Sessel zurückgelehnt da, ganz überdeckt von stetigen Lichtfunken, die der Sonnenstrahl in ihrem Haar, ihren Augenbrauen und Wimpern erweckte. Die Augen halb geschlossen, träumte sie ihren altgewohnten Traum.
Er war mit ihr herangewachsen. Jeden Morgen erwachte er mit ihr, um ihr neugestärkt zu folgen. Er ging mit ihr in die Schule, mischte sich in alles, was sie vornahm. In der Nacht kam er oft, mit dem seltsamen Narrentand unserer Träume angetan. Er war immer zur Hand! Wovon er sprach? Das ist das schwer zu lösende Geheimnis liebender Herzen, die nie geliebt, opfermutiger Seelen, die nie ein Opfer gebracht haben. Eines nur wiederholte er immer wieder: »Bald, bald muß etwas geschehen, muß etwas erlebt werden. Bald, sonst versäumst du's.«
Nachdem Rosa eine Weile ihrem treuen Gefährten zugehört hatte, seufzte sie, erhob sich und ergriff Hut und Mantel, um auszugehn.
Die Straße war leer, kein Lufthauch regte sich. Gerüche von Fleisch und Gemüse strömten aus den geöffneten Fenstern. Papierfetzen und alte Schuhsohlen lagen auf dem Pflaster und sonnten sich.
Rosa ging zum Marktplatz hinab. Die Hände in die Taschen ihres Mantels gesteckt, wiegte sie sich lässig hin und her und blickte auf die Häuser und in die Fenster, mit der gleichgültigen Zerstreutheit, die wir gewohnten Dingen entgegenzutragen pflegen, wenn unsere Blicke an ihnen haften, ohne sie zu sehen.
Am Ausgang der Straße und Eingang des Marktplatzes lag das Geschäft »Firma Lanin und –«, Verkauf von Kolonialwaren jeder Art. Das Geschäft Lanin war von größter Wichtigkeit für das Städtchen; lange schon war es die Hauptquelle für die Bedürfnisse der Haushaltung, und mehrere Generationen hatten den Namen Lanin zugleich mit den Worten Zucker, Rosinen und so weiter aussprechen gelernt. Herr Lanin saß im Rat, wie sein Vater und Großvater vor ihm dort gesessen. Herr Lanin spielte eine bedeutende Rolle bei der Feuerwehr, der Armenpflege und Sparkasse. Herr Lanin war eine so große Persönlichkeit, daß die bescheideneren Bürger der Stadt nicht zu protestieren wagten, wenn die Firma ihnen doppelte Rechnungen machte oder schimmeligen Käse verabfolgte. »Firma Lanin und –« stand über der Türe. Dieses »und« war eine Huldigung für die Tochter der Firma, für Fräulein Sally. Der künftige Schwiegersohn sollte Kompagnon werden; das war sicher; so legte die ganze Stadt dieses »und –« aus; bis Fräulein Sally aber ihre Wahl getroffen, mußte das »und –« allein stehen bleiben und warten.
Die Firma war sich ihres Wertes viel zu sehr bewußt, um auf äußeren Glanz etwas zu geben; dieserhalb war das Geschäftslokal ein enges, finsteres, unreinliches Zimmer. Das abgeriebene, von der Sonne gebleichte Schild vor der Türe zeigte einen entsetzlichen Neger, der einen weißen Zuckerhut in den Armen hielt.
Rosa öffnete die niedrige Glastüre, die in das Laninsche Verkaufslokal führte, und setzte dabei eine heisere Glocke in Bewegung. Ein starker Geruch von Orangen, Fisch, feuchtem Stroh schlug ihr entgegen. Fässer und Kisten türmten sich bis zur Decke auf; schwarz angestrichene Holzleisten liefen an den Wänden hin und trugen mächtige Pakete, in blaues, gelbes, graues Papier gehüllt, halb von Dämmerung und Staub verborgen. Hinter dem Ladentisch stand Konrad Lurch, der Diener der Firma. Sein langes, sehr schmales Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt. Seine Augen hatten die matte, gelbliche Farbe des Gesichtes und schienen mit diesem ineinandergeflossen. Er trug einen weiten Rock von glänzendem Sommerstoff, wie schwarzes Packpapier, und rotgelbe Beinkleider, die in der Farbe mit dem Papier Ähnlichkeit hatten, in das man Stearinkerzen packt – acht auf ein Pfund.
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