Es mussten Stunden vergangen sein, als ich wieder die Augen aufschlug. Der Himmel hatte sich bereits rötlich verfärbt. Tiefe Schatten lagen über mir. Noch immer spürte ich den nun bitteren Geschmack von Laub und Erde in meinem Mund. Und doch griff meine Hand fast wie von selbst nach den Blättern um mich her. Natürlich lagen sie leblos da. Ich hatte alles Leben aus ihnen herausgesaugt. Der Wellenschlag des Sees klang leise zu mir.
„Komm her - komm her!“ flüsterte er mir ins Ohr.
Nichts hätte ich lieber getan, als das. Wenn auch nicht auf meinen zwei Beinen selbst, so doch auf allen Vieren kriechend oder meinetwegen robbend auf dem Bauch. Nur fort von diesem vermaledeiten Ort! Doch schon mit dem ersten Versuch zerplatzte dieser Traum. Solange der Fuß still auf dem Waldboden lag, schien er wieder ziemlich in Ordnung zu sein. Also lehnte ich mich mit dem Rücken gegen den Stamm und stütze mich mit den Händen auf. Doch sobald ein wenig Druck auf den Knöchel kam, zog der Schmerz wieder bis hinauf in mein Hirn und ließ mich zusammenbrechen wie einen morschen Ast. Hilflos wie ein Kind hockte ich da und hätte am liebsten wild um mich geschrien. Ich bin mir nicht sicher - vielleicht tat ich es auch. Und doch musste ich wieder eingenickt sein. Manchmal hatte ich das Gefühl, glühende Augen sähen mich an und eine feuchte Schnauze berühre meine Haut. Aber wenn ich die Lider aufschlug, war ich allein mit dem Wald. Nur das Rauschen der Blätter und das Schlagen der Wellen begleiteten mich bis in den Morgen hinein. Sobald der erste Tau sich zu bilden begann, griff ich gierig in das umliegende Laub und stopfte es in mich hinein bis ich kaum noch Luft bekam. Mit jedem Bissen schmeckte es mir mehr wie ein Drei-Gänge-Menue - köstlich erfrischend und mit einer Note feinsten italienischen Weins. Gegen Abend merkte ich, dass mein Fuß langsam abzuschwellen begann und doch zog der Schmerz bis ins Rückenmark, sobald ich das Bein nur ein wenig bog. Zumindest wärmte der Schuh den Fuß, denn die Nächte waren doch lausig kalt. Ein Wunder, dass das Fieber gesunken war. Oder lag ich doch schon im Delirium und bildete mir dies alles nur ein? Fröstelnd zog ich die Arme um mich und wärmte so zumindest den Bauch. Der Rest schien einzig Gänsehaut zu sein. Glückliches Wildschwein - Leder zu Leder - ich wünschte, ich hätte meine Jacke bei mir. Stattdessen stellte ich mir vor, ich säße gemütlich daheim an einem prasselnden Kamin - von vorne geröstet und am Rücken kühl. So kühl, dass es in der Nierengegend zu ziehen begann. Vielleicht waren auch nur die Muskeln verspannt. Kein Wunder, bei zwei Tagen an einen Baumstamm gelehnt. Morgen musste ich unbedingt an den See. Morgen - ach morgen - bis die Dämmerung anbrach, war noch so unendlich viel Zeit.
Diesmal war es Wirklichkeit. Etwas schnupperte an meiner Hand. Unwillkürlich setzte ich mich auf. Mit einem Schlag war ich hellwach. Ein leises Rascheln im Unterholz. Von der schnuppernden Nase war zwar nichts mehr zu sehen und dennoch pochte mein Herz bis zum Hals. Eine ganze Weile saß ich so da, die Knie heraufgezogen bis zum Kinn. Für einen Moment schloss ich die Augen wieder und legte meinen Kopf darauf - bis mir bewusst wurde, was ich da eigentlich tat. Ich hatte beide Beine bewegt, ohne dass der Schmerz durch den ganzen Körper zog! Mein Fuß schien wieder in Ordnung zu sein! Zumindest schmerzte er nicht mehr so stark und hatte fast wieder seine normale Größe erreicht. Ganz langsam richtete ich mich auf, wobei mein Rücken steifer zu sein schien, als mein Bein. Die Wirbel knackten und knirschten, als erwachten sie aus einem hundertjährigen Schlaf. Ansonsten klappte das Stehen ganz gut. Zumindest nur auf einem Bein und mit dem Rücken gegen den Baum. Ich fühlte mich wie nach einem Marathonlauf. Allerdings wäre ich auch dort schon nach einem Bruchteil der Strecke krepiert. Also eigentlich ein schlechter Vergleich. Dennoch gierte mein Körper nach Sauerstoff und ließ mich japsen wie beim Zieleinlauf. Einige Tropfen Morgentau am Tag schienen wohl doch nicht genug zu sein. Ein Körper brauchte wesentlich mehr Energie und vor allen Dingen Flüssigkeit. Vorsichtig senkte ich den kranken Fuß. Ich musste unbedingt zum See! Falls nötig, auch auf einem Bein. Bäume zum Festhalten gab es genug. Der Boden fühlte sich weich und wackelig an, als ich den Fuß abzusetzen begann. Aber er stand, ohne dass der Schmerz allzu unangenehm war. Trotzdem war die Anstrengung groß und ich schnaufte immer noch wie nach einem Hundertmeterlauf. Vermutlich würde es Stunden dauern, bis ich an den See hinunter kam. Allerdings schien er doch näher zu sein, als im ersten Moment gedacht. Vierzig bis fünfzig Meter vielleicht. Wenn er keine Fata Morgana war. Nur - dann säße ich wahrscheinlich auf einem Kamel. Schlecht wäre das nicht. Stattdessen wagte ich den ersten zaghaften Schritt. Mit den Händen fest an den Baum gekrallt, klappte das erstaunlich gut. Tautropfen sprenkelten meine Wange entlang, als der Wind durch die Baumwipfel fuhr. Aber ich hatte kein Verlangen nach erdvermischtem Laubwasser mehr. Dort drüben wartete ein ganzer See. Ein ganzer, herrlich erquickender See - mit Wasser, das durch die Kehle rann, wie guter, junger französischer Wein und sicher ebenso berauschte wie er. Langsam merkte ich, wie ich zu entspannen begann. Der Gedanke an Wasser im Überfluss brachte meine Lebensgeister wieder auf Trab. Vorsichtig wagte ich den zweiten Schritt. Blieb stehen. Entspannte den kranken Fuß. Beim nächsten Schritt würde wieder ein Baumstamm sein. Es tat gut, sich dort ein wenig auszuruhen. So schlapp hatte ich mich zuletzt nach meiner Blinddarmoperation gefühlt. Trotzdem merkte ich, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss und mich dazu zwang, Schritt für Schritt weiterzugehen. Eine Schnecke hätte den See sicher schneller erreicht als ich. Die Sonne hatte längst den Zenit erreicht, als das schmale Ufer fast vor mir lag. Einige wenige Schritte noch und doch kamen sie mir vor wie eine Ewigkeit. Als der schmale Streifen feinen Sands endlich vor mir lag, hätte ich mich am liebsten sofort hineingesetzt. Aber ich zwang mich, aufrecht zu stehen, aus Furcht, ich käme nicht wieder hoch. So kurz vorm Ziel und doch verendet wie ein waidwundes Tier? Nur ein paar Schritte noch zum Ziel! Siehst du, wie das Licht mit den Wellen spielt? Sie rufen dich! Komm, spiel mit uns! Die Gedanken drehten sich im Kreis. Mein Körper schien nicht mehr er selber zu sein und doch machte ich Schritt um Schritt, schlurfte und stolperte mehr, als dass ich lief, bis ich unsanft zu Boden ging - mit dem Kopf voran, Arme und Beine weit von mir gestreckt. Mein Schädel brummte, wie nach einer durchzechten Nacht. Etwas Feuchtes lief mir in Nase und Mund. Vermutlich hatte ich mich beim Sturz verletzt. Trotzdem sog ich es gierig auf, mochte es Blut sein oder auch nicht. Es wäre nicht das erste Mal. Als Junge war ich oft genug gestürzt. „Kein Kind produziert so viel Blut, wie du“, hatte meine Mutter immer gesagt. Ich erwartete einen dicklichen, süßen Geschmack im Mund, aber die Flüssigkeit war erfrischend und klar. Abgesehen von einigen Körnern Sand. Ich drehte mich ein wenig herum, so dass ich auf dem Rücken lag. Die Sonne stand hoch über mir. Wohlige Wärme überzog mein Gesicht, während ich halb im Wasser lag. Kleine Wellen kräuselten meinen Körper entlang. Ich wünschte, ich läge für immer hier! Immer wieder schöpfte ich Wasser mit meiner Hand. Zunächst zu viel, so dass ich heftig zu husten begann. Meine trockene Kehle war das Schlucken nicht mehr gewohnt. Danach führte ich es behutsam an meine Lippen heran, von wo es Tropfen für Tropfen in den Mundraum rann. Ganz allmählich kehrten meine Sinne zurück. Wie viele Stunden mochten vergangen sein? Jedoch - ich fühlte mich herrlich erfrischt, wenn auch schwach. Die Sonne verlor bereits an Kraft. Die Schatten der Bäume krochen auf mich zu. Ich spürte, wie ich wieder zu frieren begann. Ich musste aus diesem Wasser heraus! Vorsichtig setzte ich mich auf. Der erwartete Schwindel blieb aus. Hatte die Angst vorm Verdursten die letzten Tage dominiert, so war es jetzt der Gedanke an Essen und Unterkunft. Vielleicht gab es hier Beeren oder Moos. Ich hatte gelesen, dass Moos durchaus essbar war. Zum meinem Leidwesen entdeckte ich von hier aus jedoch nur Farne und dichtes Gehölz. Als Kind hatte ich wilde Erdbeeren geliebt. Nun wären schon Brennnesseln und Sauerampfer ein Traum - falls es die hier überhaupt gab. Heute allerdings war ich zu schlapp dafür. Ein Gewaltmarsch am Tag war mehr als genug. Entschlossen blickte ich mich um. Die Bäume am Ufer boten sicher Schutz für die Nacht. Auf eine weitere kam es nicht an, jetzt wo Wasser in der Nähe war. Der Sand schien mir als Schlafplatz nicht angebracht. Womöglich kamen nachts wilde Tiere her. Trotzdem glitt mein Blick weiter das Ufer entlang. Die Wellen spülten nach wie vor sanft über das Land. Ihr gleichmäßiges Plätschern strömte Ruhe aus. Eigentlich gehörte ein Boot auf diesen See. Auf und ab und auf und ab. Fast konnte ich es vor mir sehen. Ich hörte das Schlagen von Rudern und Stimmen im Wind.
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