Ich darf nicht vergessen unsere legendäre „Schlussmachparty“ zu erwähnen, die bei Dirk stattfand, wo am Ende alle Jungs mehr oder weniger betrunken in der Keller-Bar seines Papas Trübsal bliesen, während wir Mädels unsere neu gewonnene „Freiheit“ im Elternbad feierten und jede neu dazukommende Klassenkameradin frenetisch bejubelten und ganz ohne Alkohol „high“ waren.
High war ich zwar jetzt nicht, aber es war trotzdem schön, die Haupttreppe nicht alleine zur Pausenhalle runtergehen zu müssen, auch wenn Chris nicht besonders gesprächig war. Er sparte sich seinen Charme offensichtlich für wichtigere Events auf. Ich blinzelte ihn kurz von der Seite an und bemerkte, dass er extrem blass war. Er sah so aus, als könnte er eine Mütze Schlaf dringend gebrauchen und war lange nicht mehr so spritzig wie gestern in Englisch. Ich fragte mich, was er des Nachts so trieb und bei den Möglichkeiten wurde mir klar, dass ich es so genau dann doch nicht wissen wollte. „Was hast du als nächstes?“ „Bio und du?“ „Auch.“ „Noch ein Herzchen...“, murmelte er und ich wurde wieder rot. „Aber diesmal gehe ich pünktlich und warte nicht wieder auf dich“, rief ich ihm betont streng zu, als ich rechts zu den Mädchen-Toiletten abbog.
Ich konnte es kaum erwarten, den Zettel von gestern zu lesen und war gespannt wie ein Flitzebogen. Zum Glück musste ich nicht lange in der Schlange stehen. Ich griff in die linke Hosentasche, hielt inne, suchte noch mal, griff in die rechte Tasche und stellte bitter enttäuscht fest, dass meine Hosentaschen beidseits ein Loch hatten. So was Blödes. 5 Minuten später hatte ich mir auch einen Platz an einem der Spiegel erkämpft, an denen 12 aufgescheuchte Hühner versuchten, die Schminke zu erneuern oder ungeniert Pickel auszuquetschen. Ich warf einen Blick auf mein blasses Gesicht, das zum Glück nicht so abgekämpft wirkte, wie das von Chris. Neben mir stand ein Mädel mit kurzen Haaren, die mir irgendwie bekannt vorkam. „Hi Lisa“, sagte ich zu ihr, worauf sie mich irritiert ansah und pikiert fragte: “Kennen wir uns etwa?“ Ich wurde rot und versuchte mich zu korrigieren „Ich dachte schon, heißt du nicht Lisa?“ Sie nickte: „Doch, aber ich habe dich noch nie gesehen…“, drehte sich um und ging mit ihrer Freundin raus.
Etwas verwirrt trat ich hinter ihnen auch in die Pausenhalle. Ich warf meine Brote in die nächste Mülltonne und kaufte mir am Kiosk eine Cola light. Sara wedelte aus Jacks Ecke mit den Armen und rief mir etwas zu, was ich in dem allgemeinen Getöse in der Pausenhalle aber leider nicht verstand. Ich trabte auf sie zu. „Sag mal, bist du des Wahnsinns deine Brote weg zu schmeißen? Hier gibt es genug Abnehmer, die gegen ein zweites Frühstück nichts einzuwenden hätten.“ Ich schluckte schuldbewusst meine Cola runter. „Ja, sorry, und in Afrika verhungern die Kinder…“ „Hey, das war kein Scherz, ich hab eigentlich immer Hunger, also wenn du was übrig hast, immer her damit.“ Somit hatten wir geklärt, wo Omas „Stullen“ demnächst landen würden und ich war mit dieser Lösung mehr als zufrieden. Ich fragte sie sogar, ob sie irgendwas nicht essen würde und sie antwortete mit bierernstem Gesicht: „Artischocken“. Ich musste so lachen, dass mir die Cola zur Nase wieder raus kam und ich erst mal ein Taschentuch brauchte. Sara drückte mir ein reichlich ramponiertes Teil vors Gesicht und lachte auch. Das war jetzt fast so nett wie mit Judy.
So ganz aus dem Kontext fragte ich sie dann auch noch nach den Handballvereinen und zu meinem Erstaunen lachte sie mich nicht aus, sondern erzählte mir, dass sie just heute Nachmittag selber zum Training gehen würde. „Kommst du mit? Ist heute das erste Training nach den Ferien. Wir könnten gleich nach der Schule los.“
Ich sagte spontan zu und rief gleich auch kurz Oma an, um es mit ihr abzuklären. Sie war zum Glück noch nicht bei den Vorbereitungen für das Mittagessen und versprach mir, meine Sportsachen zur Schule zu bringen.
„Bestimmte Sachen?“
„Nur die Joggingschuhe und die Leggings, das T-Shirt müsste auch noch über dem Schreibtischstuhl hängen, danke.“
„Schon gefunden, ich warte nach der Schule an der Bushaltestelle auf dich.“ Es war klar, dass sie auch was zum Essen dabei haben würde.
Ich freute mich sehr, dass Sara mich gleich mit eingeladen hatte. Als hätte ich jetzt eine Schleuse aufgemacht, begann sie mir ganz begeistert von dem großen Herbstturnier zu erzählen, das am übernächsten Wochenende stattfinden sollte. Sie erzählte, dass sie sich schon das ganze Jahr auf dieses Turnier gefreut hatte, weil sie das erste Mal auch über Nacht mit dort bleiben durfte. „Und am allerbesten ist, dass es ein Mixed-Turnier ist, d.h. unsere Jungs aus der A-Jugend fahren auch mit.“ Was da jetzt so toll dran sein sollte, leuchtete mir nicht so ganz ein, aber ich war mir sicher, dass ich das auch noch herausfinden würde. Zunächst sonnte ich mich aber in dem warmen Gefühl, heute etwas Eigenes vorzuhaben und mich nicht wieder mit Selma, Luise und Co treffen zu müssen. Sara erzählte nonstop durch, bis wir vor dem Bioraum ankamen und sie mich den Mädels vorstellte, die dort schon gestanden und gelästert hatten.
Eine davon war Lisa, die ich vorhin ja auf dem Mädchenklo angesprochen hatte. Sie lächelte leicht angesäuert und sagte Sara, dass wir uns bereits kennen gelernt hätten. Sara zog nur eine Augenbraue hoch. Wow, das hatte ich bisher noch nie gesehen und war beeindruckt, dass jemand nur eine Augenbraue bewegen konnte. Sie ignorierte meinen verblüfften Blick, aber sagte nichts mehr, sondern schob mich an den Mädels vorbei in den Klassenraum. Dann winkte sie mir noch kurz zu und verschwand zu ihrer Geschichtsstunde. Gestern war ich vor lauter Aufregung gar nicht dazu gekommen, mir das Klassenzimmer genauer anzuschauen, aber jetzt hatte ich noch einen Moment Zeit, bis Direktor Hofmann kam. Ich setzte mich in die dritte Reihe ans Fenster, wo ich gestern schon gesessen hatte.
Der Raum erinnerte mich an das Biozimmer in meiner alten Schule und ich hatte fast den Eindruck, außer gestern schon öfter hier gewesen zu sein, aber wahrscheinlich gab es in ganz Deutschland mehrere identische Klassenräume in Gebäuden gleichen Baujahres, so dass mich das jetzt nicht wirklich irritierte. Nach und nach füllte sich das Klassenzimmer, der Platz neben mir blieb aber erst mal frei. Doch da kam Christopher als einer der Letzten um die Ecke gebogen und schaute sich hastig um, um dann an Boris vorbei zu sprinten, der auch auf unsere Reihe zuhielt, um sich neben mich zu setzen. Boris hockte sich neben ihn und kurz darauf erschien Herr Hofmann in der Klasse mit einem Netz Kartoffeln in der linken Hand.
Mit einem Schlag waren alle still – alle Achtung, er schien sich Respekt verdient zu haben. So trantütig, wie er gestern schien, war er nämlich gar nicht. Ich war ziemlich erstaunt. Er reichte das Netz herum und jeder sollte sich eine Kartoffel herausnehmen. Als nächstes verteilte er Skalpelle und schaute jeden von uns durchdringend an: „Wir haben heute nicht den Erste Hilfe Kurs- also bitte keine Messerstechereien – ich hoffe jeder ist mit seinem Sitznachbarn auf gutem Fuß…“ Das war eine komische Ansprache, aber die Message kam an. Chris grinste mich von der Seite an und ignorierte Boris komplett, dem das aber gar nichts auszumachen schien. Die nächsten 30 Minuten waren erfüllt von konzentrierter Ruhe wegen der Versuche, die wir mit den Kartoffeln durchführen sollten und ich war überrascht, was man mit so ollen Knollen alles anstellen konnte. Zwischendurch schwadronierte Herr Hofmann über die Vorzüge von „Linda“, „Bintje“ und wie sie nicht alle heißen für Reibekuchen und Kartoffelpüree – ich wusste nicht, dass es für jedes Gericht eine passende Kartoffel gab und fragte mich, ob irgendwer das sonst noch mitbekam. Auch diese Doppelstunde war schneller um, als gedacht, und ich freute mich schon auf die 2. große Pause.
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