Wieder wechselte er die Frequenz.
Zwei Fernfahrer unterhielten sich auf der Autobahn über die Ligaergebnisse.
Der verrostete Golf erreichte die Stadt und fuhr von der Durchzugsstrasse ab in Richtung Zentrum.
Wieder wechselte Gary die Frequenz.
„Willst du mich ficken?“ – „Ja.“ – „Willst du mir den Schwanz in den Arsch stecken“ – „Ja.“ – kamen wieder Stimmen aus dem Lautsprecher.
„Yeah! Und von vorne auch!“ schnitt jemand Gary das Wort ab.
Verärgert schaltete Gary von CB-Funk aufs Radio um. Irgendwo in Ktn. hatte eine Einbrecherbande das Waffenarsenal eines Biedermannes ausgeräumt. Sofort dachte Gary an Metalls Straßensperre, doch er verwarf wieder den Gedanken. Er drehte den Frequenzregler weiter.
Der Golf fuhr schon durch das Zentrum. Gary scherte sich einen Dreck um die Fußgängerzone. Im Gegenteil, er gab Gas und hätte fast einen Jungen übersehen, der sein Mädchen über die Schultern geworfen, die Gasse entlang schleppte. Sie kreischte vor Lachen. Im Rückspiegel beobachtet Gary die beiden. Es waren zwei aus der siebenten Klasse. Er gab ihr einen Klaps auf den, von einer Stretchjean hauteng umspannten Po.
Gary erreichte den Hauptplatz und verlor das Pärchen aus dem Rückspiegel. Er konzentrierte sich auf die Plakate an den Litfassäulen. Volksmusikkonzerte, eine Tombola, die Radioclubparty wurden angekündigt. In diesem Nest war einfach nichts los. Wieder wechselte die Frequenz.
In einem Privatsender jenseits der italienischen Grenze machte ein Klagenfurter Puff Reklame für Freestylfucks am Wochenende. Komplettes Herrenservice ab sechzig Euro. Full Leatherjacket-Service für siebzig Euro. Sechser Block ab hundertneunzig Euro. Normalfick je nach Nationalität der Nutte ab vierzig Euro.
Gary hatte endgültig genug. Er parkte den Golf vor Harrys Bar und schaltete das Radio ab.
Zwei Discoziegen kamen aus dem Valentino und tänzelten an Harrys Bar vorbei über den Hauptplatz. Gary blendete die Schweinwerfer auf, um die Mädels zu grüßen. Doch die warfen angewidert von seinen Lichtspielen die Hände vors Gesicht, kreischten hysterisch wie bei einem Beatleskonzert und rannten über den Hauptplatz davon, um im Rathauskeller zu verschwinden. Einen Moment dachte Gary daran ins Valentino zu gehen, dort hingen um diese Zeit fünf bis zehn Provinzmachos an der Bar herum und bogen, ohne Girls, einen schwulen Sonntagabend im November hinunter. Oder sollte er noch einmal starten und ans andere Ende der Stadt fahren, um im Papageio vorbei zu schauen? Gary stieg aus und ging in Harrys Bar.
An der Theke stellte Harry dem Droog unaufgefordert ein kleines Bier hin. „Das erste Kleine nach der Rückkehr aus dem Exil geht auf Kosten des Hauses“, bemerkte er und schenkte sich selbst ein Kleines ein. Sie prosteten einander zu.
Gary sah sich im Lokal um. Nichts hatte sich in den vergangenen zwei Monaten geändert.
Hinten bei den Billardtischen grölten ein paar Teenager aus der Schicki-Szene herum. Laufend gingen Biergläser zu Bruch. Ludwig „Lou“ Hofer, ein neunzig Kilo, einsfünfundachtzig Elefantenbaby ließ sich mit seiner ganzen Fülle auf die Kaffeehausstühle fallen, die, zum Gaudium seiner Clique, der, bis auf eine langhaarige Brünette mit einem idiotischen Lächeln, ausschließlich Burschen angehörten, regelmäßig unter seinem fetten Hintern zu Bruch gingen.
Harry rannte nach hinten, um das Elefantenbaby rauszuschmeißen. Lou wischte den Barkeeper mit einem Schwinger gegen den Sparvereinskasten.
Harry ging unter dem Applaus der Teenager zu Boden. Lou Hofer raffte die Holztrümmer der zerschmetterten Sessel zusammen und schleuderte sie Harry in die Arme.
„Bis morgen, Arschloch“, lallte der siebzehnjährige Bengel, „für heute lass ich anschreiben.“
Er holte zu einem mächtigen Schwinger aus, der ziellos die Luft durchschnitt und seiner ultracoolen Gang das Zeichen zum Aufbruch gab.
„Wer wird denn bezahlen?“ mähte die brünette Ziege. Einer der charmanten Herren brachte sie mit einem Klaps auf den Hintern zu schweigen. Hysterisch kreischte sie auf und spürte sofort sieben Burschenhände auf ihre knallenge Jean klatschen. Lou, der Leader, legte seiner Puppe schützend den Arm um den Hals und nahm sie im nächsten Moment in den Schwitzkasten. Die Horde trollte sich aus der Bar. Auf dem Hauptplatz standen sie noch für eine Minute zusammen, um dem Mädel den Hintern zu versohlen. Dann zog Lou Hofer endlich mit seiner heulenden Mieze ab.
Harry stand schwerfällig vom Boden auf. Er knallte die Holztrümmer in den Mülleimer und kam, sich das schmerzende Kinn reibend zu Gary an die Theke zurück. „Der dem Arsch einmal eine knallt, der geht für eine Woche hier gratis ein und aus“, raunte Harry zerknirscht und spülte mit einem halben Liter Whisky seinen Groll hinunter.
Gary sah sich im Lokal um.
„Von deinen Freunden war heute noch keiner hier“, sagte Harry und zapfte für sich und Gary zwei Bier ab. Beide tranken gut die Hälfte in einem Zug aus.
„Ariane, hat sich bis drei Uhr früh vollaufen lassen, ohne ein Wort zu sagen. Blödsinnig hat sie in die Luft gestarrt, der Musik gelauscht und war auf einem Horrortrip durch die Gehirnachterbahn. Na ja, um drei war sie sternhagelblau. Wie ein Sack ist sie vom Barhocker gefallen. Wir haben sie auf die Bank gelegt und dort hat sie bis zehn Uhr Vormittags gepennt. Sie ist gerade noch vor den ersten Kirchgängern abgezogen, die nach der neuner Messe einen heben“, berichtete Harry.
„Wo ist sie denn hingegangen?“ fragte Gary, er ließ seinen Blick durch die Bar schweifen. Ein paar Teenager spielten Abalone. Zwei Mädchen blätterten in Illustrierten herum. Sie warfen abwechselnd prüfende Blicke zur Theke hinüber, um weiter stupid in die Klatschblätter zu schauen.
„Was weiß ich. Wahrscheinlich nach Hause“, antwortete Harry, der an Gary vorbeieilte, um Bier zu servieren. Hinten, an einem der letzten Tische vor dem Billardzimmer, saß Madison bei einem Mittelschüler und unterhielt sich mit dem Burschen über Popmusik. Plötzlich verabschiedete sich der Junge. Madison stand auf und kam zur Theke herüber. Sofort erkannte er Gary und begrüßte ihn wie einen alten Kumpel.
„Wir trinken noch einen“, schlug er ohne Umschweife vor. Der Mittelschüler zahlte und zog ab.
„Warum bist du nie zu Besuch gekommen?“ wollte Madison wissen, während sie an einem Tisch, im hinteren Teil der Bar Platz nahmen.
„Ich war in Wien“, antwortete Gary und sie steckten für gut zwei Stunden die Köpfe zusammen.
Um sechs Uhr früh öffnete Harry seine Bar. Zwei Schichtarbeiter kamen mit ihm ins Lokal, um vor der Frühschicht ein Bier zu trinken. Sie lehnten wortlos an der Theke und starrten durch die Spiegel auf den Hauptplatz hinaus.
Um halb sieben kam der Zeitungsausträger El Kamal und bracht die Morgenausgaben der „Kleinen“ und der „Krone“. Noch im Halbschlaf schlug Harry die Zeitung auf. Er las die Fußball- und Eishockeyergebnisse, mit seinem Totoschein hatte er schon gestern Abend den Arsch gewischt. Harry trank einen Kaffee. Er überflog die Stellenangebote. Das Valentino suchte eine Kellnerin, in der Schuhfabrik wurden wieder Arbeitskräfte aufgenommen, die meisten Anzeigen waren Saisonstellen in den Schigebieten.
Flüchtig las er das Kinoprogramm. In Klagenfurt und Villach wurde ausschließlich Blockbustermovies gezeigt, die Verrückten vom Programmkino spielten ein polnisches Filmmeisterwerk aus den sechziger Jahren. Seit seinem Schulabgang war Harry nicht mehr im Kino gewesen, sein Filmkonsum beschränkte sich auf die Raubkopien, die von Straßenverkäufern angeboten wurden und die er einmal im Monat, nach dem er die Bar dicht gemacht hatte in seiner Wohnung ansah. Oft fragte er sich, wie die Cineasten vom Programmkino über die Runden kamen, doch er konnte keine Antwort finden.
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