Etwa fünfzehn Minuten liefen wir zu Fuß. Als wir in meinem Apartment ankamen, stellte sich heraus, dass nichts mehr zu trinken da war. Ich schickte meinen Bruder los, um etwas zu besorgen. Als er zurückkam, setzten wir uns hin und tranken.
Ein paar Minuten später gab es draußen ein lautes Durcheinander. Mein Bruder hob den Kopf und fragte: „Verdammt, was’n da los?" Ich stand auf, ging zur Tür und sah nach. Zwei Polizeiwagen mit Blaulicht standen auf dem Hof. Ich erkannte vier grimmige Polizisten und machte die Tür wieder zu.
„Was is` denn?“ fragte mein Bruder.
„Jetzt wird es spannend!“ antwortete ich. „Ich denke, es ist besser, du gehst jetzt.“
*
Ich weiß nicht, was die Polizisten wollten oder nach wen sie suchten, aber sie suchten nicht nach mir oder meinen Bruder. Irgendwann fuhren sie. Ich war erleichtert. Mein Bruder war in seiner Wohnung und ich legte mich auf meine Matratze und trank. Ich trank eine ganze Weile, dann schlief ich ein und am nächsten Tag trank ich weiter. Ich konnte mich nicht dazu bringen aufzustehen.
Am Abend, stand ich dann auf, zog mich an und lief durch die Stadt. Ich landete in einer schäbigen Kneipe. Es herrschte reger Betrieb. Alle Tische waren besetzt. An der Bar war nur noch ein einziger Hocker frei. Ich setzte mich und bestellte mir einen teuren Whiskey ohne Eis. Ich zahlte mit meinem Anteil vom Geld.
Ich trank den ganzen Abend und ging irgendwann nach Hause. Am nächsten Morgen ging ich zu meinem Bruder. Ich klopfte an seine Tür. Aber er war nicht da. Ich ging umher. Gedanken schossen mir durch den Kopf: Als mein Vater noch lebte, erklärte er mir unfreiwillig “tolle“ Sachen - Zum Beispiel: Ein Mensch konnte arm bleiben, auch wenn er sein Leben lang arbeitete - Der Lohn meines Vaters ging für den Kauf von “Allernötigstem“ drauf, Kleinigkeiten wie Zigaretten, Sportwetten und Handys, die genau wie seine Alkoholsucht, weit mehr kosteten, als sie wert waren - Ich hatte zeitig angefangen mich selbst zu befriedigen, mit 12 - Ungestört, in meinem Bett liegend, weil abends um 21 Uhr bei uns das Licht aus sein musste, damit mein Vater Kraft für den nächsten Tag als sinnlos schuftender Malocher tanken konnte - Mein erstes Mal hatte ich mit 15, auf dem Rücksitz eines Autos, während der Kumpel des Typen, der mich entjungferte, damit durch die Gegend fuhr - Meine Mutter ist vor sechs Jahren an Brustkrebs gestorben - Mein Vater liegt schon, seit ich 16 bin, unter der Erde - Wurde die Blondine bereits gefunden? - Habe ich sie umgebracht? - Was ist mit dem Typen, der bei ihr war? - Bin ich eine Mörderin? - Musste ich bestraft werden? - Musste mein Bruder bestraft werden? - Was zeichnet ein höchst erfülltes Leben aus?
Ende
Es war ein stinknormaler Vorweihnachtsabend. Meine Konzentration war dahin. Ich brauchte Ablenkung von meinem Leben: von meiner Vergangenheit, von meinem Job, von Erfolglosigkeit, vom deprimierenden Regenwetter und ganz besonders von dem alljährlichen Weihnachtsstress. Also ging ich in den Swinger Club. Man kennt mich dort. Ich komme oft hier her, weil ich hier vergessen kann, dass ich eine erfolglose Architektin bin. Hier ist alles bestens. Hier ist es den Leuten egal, wer ich bin. Ich konnte rumsitzen, mich unterhalten, Sex haben, Vodka trinken und so tun, als wüsste ich Gott-weiß-was.
In der Umkleide zog ich mich bis auf den Slip aus und ging anschließend in den Aufenthaltsraum. Dort gab es eine Bar und Vodka – viel Vodka. Das Eintrittsgeld war ordentlich, dafür waren die Getränke gratis. Also bestellte ich Vodka im hohen Glas, saß an der Theke und wartete, wie eine Obdachlose die in einem Park sitzt und nicht weiß, ob sie auf ein besseres Leben oder auf den Tod wartet.
Ich sitze also da, und irgendwann kommt dieser nur mit einem Badetuch um die Hüfte bekleidete Typ in den Raum. Machte nicht viel her. Etwa 1,60 groß, 45 bis 50 Jahre alt, 10 bis 15 Kilo Übergewicht, nervöser Tick am linken Auge, hässliches graues Oberlippenbärtchen und trug schimmernde Silberketten um den Hals.
Dieser Typ und ich, wir waren bisher die einzigen Gäste im Club. Abgesehen von der Frau hinter der Theke – der Inhaberin des Clubs: Maria. Ich darf sie liebevoll Mami nennen. Sie stand am hinteren Ende der Bar und schaute in irgendeine Frauenzeitschrift . Ich mochte Maria. Sie färbte sich die Haare rot und verfügte über eine gute Figur. Bei meinem ersten Besuch winkte sie mich zu sich heran und sagte, sie würde mir 50 Euro spendieren, wenn ich so nett wäre, es mit einem hoffnungslosen Fall zu treiben – ihrem Bruder. Das tat ich, und dann saß ich an der Bar und trank mit Mami Maria und ihrem Bruder Winni.
Jedenfalls, der Typ mit den Silberketten um den Hals kam an die Theke und setzte sich auf einen der Barhocker, links neben mich, obwohl noch etwa zehn andere Hocker unbesetzt waren. Er machte eine hastige Handbewegung und bestellte Whiskey mit Eis, stellte eine kleine Flasche Nasenspray auf die Theke und wollte von mir wissen, was ich trinke.
„Vodka“, gab ich knapp zur Antwort und trank mein bereits zweites Glas aus.
„Gib ihr noch einen Vodka, Maria.“
Der Vodka kam. Ich trank ihn sofort auf ex.
„Ich heiße Claus“, sagte der Typ. „Mit C.“
Ich ging nicht darauf ein.
Er zögerte einen Augenblick, hob dann sein Glas und nippte an seinem Whiskey. Wischte sich mit der rechten Hand den Mund ab und sah mich an: „Früher bin ich Schützenkönig gewesen. Ich stach zwei Dutzend Männer aus. Na, vielleicht nicht zwei Dutzend, Vielleicht bloß ein rundes Dutzend.“
Ich bekam ein gespieltes Lächeln hin. Ich bestellte noch einen Vodka. Der Vodka kam. Ich trank einen ordentlichen Schluck.
Claus zeigte etwas Bein und drückte seinen nackten Schenkel an mich. „Du hast mir noch gar nicht deinen Namen gesagt“, stellte er fest.
„Ich heiße Sophie und ich möchte hier nur in Ruhe sitzen und trinken!“
„Ach - wie schön! Ich liebe den Namen Sophie!“
Ich sagte nichts, trank meinen Vodka, blickte zu Mami rüber und machte eine kreisende Handbewegung. „Für mich bitte noch einen.“
„Mach langsam“, sagte Mami Maria, „du musst noch fahren.“
„Wenn es zu schlimm wird, nehme ich mir ein Taxi“, antwortete ich.
Claus starrte mich an: „Du gefällst mir.“
Der Vodka kam, ich stürzte das Glas runter und gab Mami zu verstehen, dass ich noch einen wollte.
Claus starrte mich noch immer an: „Weißt du … du hörst das bestimmt jeden Tag, aber du bist wunderschön! Ein echter Hingucker! Du ziehst sicherlich die Blicke aller Männer auf dich. Was macht eine Frau wie du hier? Geht es dir nicht gut? Hast du ein Problem? Vielleicht kann ich dir helfen! Ich finde, Prinzessinnen sollten nicht traurig sein! Und du bist eine Prinzessin! Eine wunderschöne Prinzessin!“
Mami Maria unterbrach das Selbstgespräch des Typen, indem sie mir eine angebrochene Flasche Vodka auf die Theke knallte. „Wenn du die alle hast, bring ich die nächste!“
Ich lächelte und nickte zustimmend.
„Du redest ja gar nicht mit mir“, stellte Claus fest. „Magst du mich etwa nicht?“
Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich erkennen, dass er mich erwartungsvoll anblickte. Jetzt erst vielen mir seine Warzen und Leberflecken im Gesicht auf. Je mehr ich ihn ansah, desto weniger fand ich ihn attraktiv. Wieder sagte ich keinen Ton.
„Du solltest mir eine Chance geben. Ich kann´s gut.“
Ich hob mein Glas.
„Du weißt schon, was ich meine!“
Ich schwieg, trank und schüttete mir noch einmal nach.
„Oder etwa nicht?“
Genervt drehte ich meinen Kopf in seine Richtung: „Claus mit C, Psssst!“ Ich hielt meinen Zeigefinger gegen seine Lippen. „Ich möchte hier nur in Ruhe sitzen und trinken. Nichts weiter!“
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