So huschte sie unter die Dusche, in der Hoffnung, dass das warme Wasser das ihren Körper herunterlief auch ihre Widersprüche wegspülte.
Die Nacht legte sich langsam um Yasmins Schultern, wie ein Samtcape und ihre Augen brannten nach dem endlosen Weinen. Wo waren die Arme ihres Liebsten, wo seine volle Stimme, sein tiefes Lachen? Yasmin war allein und fiel tief und immer tiefer in sich selbst hinein, scheinbar endlos, als würde dieses Fallen nie enden.
Das Weinen hatte sie müde gemacht, ein heißer Kakao schien ihr Trost zu versprechen, so fröstelte sie, und das mitten in einer schon warmen Frühsommernacht.
Da fiel ihr Blick auf die Sichel des Mondes, fein geschwungen, wie die Sicheln, mit denen zu früherer Zeit das Gras für die Tiere eingeholt wurde. Sie hatte keine Post von Enrico, fast erschien es ihr, als jage sie einem Phantom nach. Ihr Kopf war schwer und nicht mehr fähig, auch nur ansatzweise einen klaren Gedanken zu fassen. Der Sternenhimmel allerdings war in der Lage, sie auf seine Weise mit einem schönen Gefühl zu verbinden. Als sie noch vor wenigen Tagen neben Enrico gelegen hatte und in einer dieser Nächte seinen Atem hütete, war über ihnen der Sternenhimmel, unendlich weit und Heimat spendend.
Du bist zeitlebens dafür verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. — Dieser Satz vom kleinen Prinzen kam ihr in den Sinn, warum auch immer, gerade jetzt.
Der Schlaf war stärker, als die Kraft der Gedanken, die das Herz an ihre Ufer gespült hatte.
Den Samen der Freiheit ins Herz gelegt
Die Morgenröte tauchte das Land durch ihr Lichtspiel vor Yasmins Haus in eine Landschaft, wie sie eher in Afrika beheimatet ist. Diese afrikanische Stimmung brachte Yasmin sofort eine Erinnerung in ihr Bewusstsein, als sie bei den Tuaregs eine Wüstenwanderung auf den Kamelen gemacht hatte. Die stolzen Frauen und Männer hatten in ihr ein Staunen entfacht, da wehte etwas zu ihr, was sie genauso leben wollte. Die Frauen führten in einem großen Selbstverständnis ihren Stamm Seite an Seite mit ihren Männern.
Yasmin hatte sich damals bewusst für einen der letzten matriarchalischen Stämme entschieden, wo ein ebenbürtiges Zusammenleben von Mann und Frau selbstverständlich und mit großer Würde und Stolz gelebt wird.
Mitten in der Wüste war der Samen der Freiheit in ihr Herz gefallen, und seitdem hatte sie nach dem Mann gesucht, an dessen Seite sie als freie Frau leben wollte. Enrico war genau der Gefährte, dessen innere Freiheit ihre Seele berührte und ihre Sehnsucht nährte, ganz in sich selbst zu Haus zu sein. Er erkannte ihre Seele und seine Antwort an sie war eine Einladung, sich durch ihn in ihrer Größe und Schönheit zu erfahren. Er vermochte es, sie in einen Raum einzuladen, der aus völliger Annahme und Wertschätzung bestand. So wie sie war, war sie geliebt. Allein ihre gesellschaftlichen Vorstellungen und Beziehungsmuster kollidierten schmerzhaft mit ihrer Seele, die sich für genau diese Freiheit in Verbundenheit entschieden hatte.
Der Satz von kleinen Prinzen hing ihr nach. Da hörte sie auf ihrem Rechner eine E-Mail ankommen:
„ Liebe Yasmin,
in der Stille des Morgens bin ich zu Dir gereist und eingetaucht in das Feld unserer Liebe. Dabei ist ein „Kind“ geboren, was aus unseren Herzensfäden gewoben worden ist, am Beginn dieses neuen Tages, mitten in Afrika:
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, erschafft Dein Herzschlag Welten, in denen die Menschen Heimat haben.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, verbindet Dein Geist, was zusammengehört.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, sehen Deine Augen auf den Grund der Seelen, die zu strahlen beginnen.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, erzeugt Dein Lachen gewaltige Wellen, sodass die Freude aus den Kehlen Vieler zu singen beginnt.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, laden Deine Hände zu gemeinsamen Handeln ein.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, lauschen Deine Ohren dem Klang des Komponisten, der die Universen erschafft.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, dann segnet jeder Deiner Schritte die Erde, auf der Du gehst.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, dann ist jeder Tag ein ganzes Leben.
Wenn Deine Botschaft Liebe ist, dann bist Du das Wunder des Seins, das in jedem Augenblick geboren wird.
Hab einen erfüllten Tag voller Liebe, Glück und Zartheit.
Enrico“
Der inneren Weisheit trauen
Yasmin war tief berührt von den Versen, die ihr Enrico gewidmet hatte. Sie wusste, dass es mehr als Worte waren. Und doch gab es in ihr den unbändigen Wunsch nach Nähe und Geborgenheit, die in einem Leben im Alltag wieder zu finden wären. Wieder war der Wunsch nach einem Kind so präsent, dass sie ihn selbst als äußerst massiv empfand. Dass sie kaum noch an ihr Studium dachte, fand sie plötzlich sehr beängstigend. — Welch eine Kluft zwischen ihren Wünschen als junge Frau und ihrer Seele, die sich wiederum nach etwas ganz anderem sehnte.
Wenn Enrico jetzt hier wäre, wüsste ich gar nicht, wie ich ihm begegnen würde. Ich fühle mich einfach total zerrissen. Was ist mir wirklich wichtig? Wie kann es sein, dass beide Seiten in mir so unterschiedlich sind? Wo bleibt die Freude an meinem Studium? Ich dachte, Liebe macht mich einfach nur glücklich. Wo gehöre ich hin? Fragen über Fragen.
Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr zur Uni, wo eine wichtige Klausur zu schreiben war.
In der Uni angekommen, führte ihr erster Weg ans schwarze Brett: Suche ich hier die Antwort? , spottete es in ihr. Sekunden später: Vertraue dir, dein Herz weiß um seinen Weg.
Was suche ich eigentlich, hier am schwarzen Brett? Yasmins Augen glitten über die vielen Zettel, die recht unübersichtlich an dieser Tafel angepinnt waren. Eine leuchtend orangefarbene Information fiel ihr ins Auge: 'Eine Woche Urlaub im Kloster, zu den Quellen der Kraft. In der Stille der Seele lauschen, in Zeiten des Wandels die Orientierung wiederfinden.' Das ist es, genau. Merkwürdig, wieso ich gerade jetzt diese Einladung finde. Welch ein Zufall? Es fällt mir zu, wunderbar.
In Yasmin breitete sich so etwas wie Ruhe aus, endlich schien es einen gangbaren Weg zu geben, ihre innere Orientierung wiederzufinden. Passt das überhaupt zu mir, ins Kloster zu gehen? — " Du bist jetzt einfach mal still“, sprach sie zu ihrem Kopf, der ihr sofort verschiedene Gegenargumente liefern wollte. „Ich weiß um deine Klugheit, jetzt geht es aber um mein Herz, das einfach irritiert ist, da kannst du mir nicht wirklich helfen. Je mehr du erzählst, je größer wird die Wirrnis in mir.“
Yasmin meisterte ihre Klausur mit zielgenauer Leichtigkeit, etwas, womit sie nach dieser inneren Berg- und Talfahrt nicht gerechnet hatte.
Später schlenderte sie entspannt mit einigen Kommilitonen zur nächsten Eisdiele. Schallendes Lachen kündete auf dem Marktplatz bei Cappuccino und Eis von dieser quirligen Gruppe junger Menschen, die das Leben genossen.
Leben in diesem einen Augenblick
Yasmin schaute auf ihr Handy, eine SMS von Enrico war eingetroffen. Eine äußerst humorvolle Spielart Enricos war es, in verschiedenen Dialekten mit Yasmin zu sprechen, was in ihr Freudenströme auslöste und sie von jetzt auf gleich in die Qualität der Leichtigkeit des Seins katapultieren konnte.
"Ming leev Mädsche, jetzt fang einfach an ze laache, dat mache die in Afrika immer so.
Da wird jetanzt und jelaat … jeder Tag is ne Fest, ne? Bützsche …
Enrico"
Es wurde ganz warm in ihrem Bauch, Welch eine Mischung: Kölsch mit afrikanischem Spirit. Yasmin lachte schallend und ihre Finger flogen über die Tastatur ihres Handys:
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