Ulrich Würdemann - Schweigen = Tod, Aktion = Leben

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Die-Ins, Strassen-Aktionen, Boykott, eine Dombesetzung – ab Ende der 1980er Jahre, zu Zeiten des Höhepunkts der Aids-Krise, wirbelte mit ACT UP eine neue Gruppierung die Aids-Politik auf. In ihren Aktionen manifestierte sich auch die Wut auf Ausgrenzung und Diskriminierung, auf Untätigkeit und Ignoranz. Nicht nur über uns, sondern mit uns – Menschen mit HIV und Aids wollten endlich selbst ihre Stimme erheben, wollten aktiv beteiligt werden.
1987 in New York entstanden, traten ab 1989 auch in Deutschland zahlreiche ACT UP Gruppen auf den Plan. Wie und aus welchen Beweggründen heraus entstand ACT UP? Was waren die wesentlichen Aktionen und Aktionsformen? Warum endete ACT UP nach wenigen Jahren wieder?
Ulrich Würdemann, damals selbst ACT UP Aktivist, erinnert an ein Stück deutscher Aids-Geschichte und geht der Frage nach, ob ACT UP heute Mythos und 'Gerümpel der Geschichte' ist, oder uns heute noch etwas zu sagen hat.

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Ulrich Würdemann

Schweigen = Tod

Aktion = Leben

ACT UP in Deutschland 1989 bis 1993

„My rage is really about the fact that WHEN I WAS TOLD THAT I'D CONTRACTED THIS VIRUS IT DIDN'T TAKE ME LONG TO REALIZE THAT I'D CONTRACTED A DISEASED SOCIETY AS WELL.“

David Wojnarowicz (1954–1992), Postcards from America: X-Rays from Hell (1989)

Für Andreas

Für Jean-Philippe

In Liebe für Frank

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Vorwort

Wut in New York – die Entstehung von ACT UP in den USA

„Ich will nicht sterben!“ – Larry Kramers „1,112 and counting …“

Die Gründung von ACT UP New York

„We are not silent“

Motto und ikonografisches Logo:Die „Marke“ ACT UP

Das SILENCE = DEATH Project

Installation Let the record show

Gran Fury und General Idea:Zwei Beispiele für die künstlerische Auseinandersetzung mit Aids

Exkurs: „Eine holocaustische Zeit“?Die problematische Verknüpfung von Aids und Holocaust

Die Aidskrise in Deutschland Ende der 1980er-Jahre

„Sterbt doch aus …“ – Gauweilereien, Hetze und Pogromstimmung

Exkurs: Von Sündenböcken und Opferlämmern

Positive im Verborgenen

Positive und die Aidshilfe(n) – ein Aufstand

1989: „Wir sind im Krieg!“ – die Entstehung ACT UP in Deutschland

In memoriam Andreas Salmen (1962–1992)

1989/90: Wie aus Ulli ein ACT-UP-Aktivist wurde

„Man kann die doch nicht angreifen!“ – Gespräch mit Jean-Philippe

ACT-UP-Reibungsflächen

ACT UP und die Schwulen(bewegungen)

ACT UP und Moralismus – auch von Schwulen

ACT UP und Aidshilfe(n)

ACT UP und „die Positiven“

Organisation, Prinzipien und Arbeitsweise von ACT UP in Deutschland

Organisation

Prinzipien

Arbeitsweise

Das Die-in – die wohl markanteste Aktionsform von ACT UP

Bundesweite Vernetzung

Internationale Vernetzung

HIV-Positive und Aids-Kongresse:von Wut zu Zusammenarbeit

1990: 3. Deutscher AIDS-Kongress, Hamburg

1992: 4. Deutscher AIDS-Kongress, Wiesbaden

1993: IX. Internationale AIDS-Konferenz, Berlin

Nach ACT UP: von Genf über Essen und St. Gallen zur Vereinbarung von 2010

ACT-UP-Aktionen in Deutschland 1989–1993 1990/91: Jesse Helms und der „Marlboro-Boykott“

Der „Marlboro-Boykott“

ACT-UP-Protest im Dom zu Fulda

Johannes Dyba, Bischof von Fulda

Das Vorbild: „Stop the Church“, New York, Dezember 1989

Vorbereitung der Aktion in Fulda

Wirkung und Folgen

ACT UP vor Ort: Das Beispiel Köln

Kristallisationspunkt: Gutemiene – Jean-Claude Letist (1946–1990)

ACT UP Köln – wärmer leben (1990–1993)

Wärmer leben: der Versuch einer Fusion von schwulem und Aids-Aktivismus

Aidsaktivismus in Köln vor ACT UP

1989–1993: Themen von ACT UP in Deutschland

Geld, Geld und nochmals Geld

Frauen und Aids

Medikamente, Therapien, Pflege – politischer Aktivismus oder Therapie-Aktivismus?

Kreide trinken – wenn man sie denn bekommt ...

Tausende Tote, (k)eine Pille

AZT

ddI

ACT UP Treatment Meeting in Hamburg, 6. bis 8. Dezember 1991

Pflegenotstand

Strukturen der Aidsforschung

Nach ACT UP: Community-Beteiligung in Studien

Arzt-Patient-Verhältnis

Verhältnis Aidsaktivismus – Therapieaktivismus

Das Ende von ACT UP in DeutschlandHerbst 1993: Die Luft ist raus …

Gründe für das Ende von ACT UP in Deutschland

Zum Vergleich: ACT UP Paris

Ist ACT UP in Deutschland gescheitert?

ACT UP in Deutschland – aus den USA importierter Aktivismus?

Unterschiedliche Ausgangssituationen in den USA und Deutschland

ACT UP in Deutschland – ein Import trifft auf „Eigengewächse“

ACT-UP-Aktionen in Deutschland: Übernahmen aus den USA und eigene Themen

Exkurs: Kunst und Aidsaktivismus in Deutschland und den USA

ACT UP – was bleibt, was wirkt weiter?

„Mach mir mal ’n ACT UP!“

Den Mythos ACT UP dekonstruieren

ACT UP – eine Bewegung?

ACT UP – eine Schwulen- oder Positivengruppe?

Was war ACT UP?

Statt eines Epilogs: „Aktivismus hat uns vorangebracht, nicht schwuler Mainstream“

Quellen- und Literaturverzeichnis

Der Autor

Impressum

Vorwort

„Sing if you're glad to be gay, sing if you're happy that way“ – mit diesen Zeilen von Tom Robinson begann Ende der 1970er-Jahre mein schwulenbewegtes Leben. Der Song, ursprünglich für die Londoner Gay-Pride-Parade 1976 geschrieben, war 1978 erstmals auf Platte erschienen und für viele Schwule schnell zu einer der bekanntesten Hymnen geworden. Wir sangen ihn Anfang der 1980er-Jahre auf den ersten CSDs in Hamburg (die damals noch Stonewall hießen), und er drückte treffend mein damaliges Lebensgefühl aus: jung, stark und (nach einigen inneren Kämpfen) unglaublich froh, endlich frei und selbstbestimmt meinen eigenen schwulen Weg durchs Leben zu gehen. Glad to be gay.

Nur wenige Jahre später prägten ganz andere Gefühle und Bedingungen mein Leben. Stolz und Zuversicht drohten von Verlust und Angst erstickt zu werden. Angst vor neuer Repression gegen uns Schwule, aber auch Angst um Freunde, um unser eigenes Leben, um unsere Zukunft.

An die Stelle fröhlichen Singens voller Vertrauen auf die Zukunft trat der Versuch, mit Aktivismus Wege aus dem Grauen zu finden. Aus dem Motto „Glad to be gay“ wurde „Schweigen = Tod, Aktion = Leben“.

Als ich zum ersten Mal von der seltsamen neuen Krankheit hörte, die angeblich nur Homosexuelle „befiel“ und deshalb auch „Schwulenkrebs“ genannt wurde, war ich 23 oder 24. Nur wenige Jahre später, mit 27 Jahren, saß ich an einem kalten Märzmorgen bei meinem Hausarzt und hörte ihn sagen, ich sei mit HIV infiziert. Doch zunächst machte ich – nach einer kurzen Zeit der Orientierung – weiter wie bisher, mit meiner Karriere, dem Engagement in der Schwulenbewegung, meinem Alltag.

Andernorts, weit weg, wurden zu dieser Zeit Menschen wütend. Gingen auf die Straße. Entwickelten neue Formen des positiven Protests. Nahmen die Dinge selbst in die Hand.

Wenige Jahre später war auch meine Wut so groß, dass ich aidspolitisch endlich „den Arsch hochbekam“. Mich selbst gegen das engagierte, was abstrakt schon lange, aber bald auch immer tiefer persönlich in mein Leben eingriff: Aids.

Ja, wir hatten damals tatsächlich „Feuer unterm Arsch“. Es brannte um uns herum, überall, lichterloh. Immer mehr unserer Freunde erkrankten, manche starben, oft unter größtem Leid, schon nach wenigen Monaten.

Wir, das war ein Kreis engagierter Menschen – in Köln und darüber hinaus. Schwul, lesbisch, hetero. Jede_r auf seine_ihre Weise betroffen. HIV-positiv, ungetestet oder HIV-negativ. Was uns einte, war Wut. Sichtbarkeit sowie das Recht, selbst für uns als Menschen mit HIV und Aids zu sprechen – was heute weitgehend erreicht scheint, mussten wir uns damals erst erkämpfen. Ganz besonders galt das für die Bereiche Wissenschaft und Medizin sowie für Aids-Kongresse, aber auch in vielen Aidshilfen war dies Ende der 1980er/Anfang der 1990er-Jahre alles andere als selbstverständlich.

Forderungen und Vorstellungen von Menschen mit HIV und Aids zu Gehör zu bringen, ihre Interessen zu artikulieren und in Entscheidungsfindungen einzubringen – das wurde zu einem der großen Themen von ACT UP.

Einige wenige Jahre lang waren wir präsent mit unserer Wut, die unser Engagement, unsere Proteste und unsere Aktionen befeuerte. Doch schon 1992/93 war „die Luft raus“ aus ACT UP, wie eine Mitstreiterin viele Jahre später formulierte. So schnell, wie ACT UP in Deutschland entstanden war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Was ist geblieben? Haben wir zu Veränderungen beigetragen, Spuren hinterlassen, die über den „Mythos ACT UP“ hinausreichen? Ja, ACT UP ist längst zu einem Mythos geworden, der manchmal recht weit von den damaligen Geschehnissen entfernt zu sein scheint. An manches erinnert man sich, anderes wird vergessen. Vieles wird verklärt, einiges missverstanden.

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