Jacob Ludwig Karl Grimm wurde am 4. Januar 1785 zu Hanau geboren. Nachdem er in Marburg studiert (1802 bis 1805) und auf Veranlassung des berühmten deutschen Juristen Savigny acht Monate in Paris verweilt hatte, wurde ihm durch Vermittlung Johannes von Müllers, des bekannten Geschichtschreibers, die Leitung der Privatbibliothek des Königs Jerôme von Westfalen in Wilhelmshöhe übertragen. Sieben Jahre lang konnte er sich hier, während Deutschland unter dem Joche der französischen Fremdherrschaft seufzte, seinen germanistischen Studien widmen. Nach der endgiltigen Niederwerfung des Korsen und Wiederherstellung der deutschen Bundesstaatsregierungen wurde er (1816) zweiter Bibliothekar an der Bibliothek in Kassel, an der sein Bruder Wilhelm schon seit 1814 als Sekretär angestellt war. 1830 siedelten sie nach Göttingen über, nachdem sie mehr als dreizehn Jahre lang vergeblich auf Beförderung gehofft hatten: Jacob wurde ordentlicher Professor und Bibliothekar, Wilhelm Unterbibliothekar. Als aber im Jahre 1837 sieben Göttinger Universitätsprofessoren, die berühmten »Sieben«, zu denen auch unser Brüderpaar gehörte, gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover öffentlich Einspruch erhoben, wurden Jacob und Wilhelm Grimm ihres Amtes entsetzt. Binnen drei Tagen mußte ersterer das Land verlassen; der jüngere Bruder folgte ihm 1838 nach. Bald nach seiner Thronbesteigung berief indessen König Friedrich Wilhelm IV., der begeisterte Freund des Mittelalters, der »Romantiker auf dem Throne«, wie ihn ein geistreicher Schriftsteller genannt hat, die beiden als besoldete Akademiker nach Berlin. Hier starb Jakob Grimm am 20. September 1863. Auch an der Nationalerhebung im Sturm- und Drangjahr 1848 hatte er thätigen Anteil genommen, indem er als Vertreter der Stadt Mühlheim nach Frankfurt a. M. ging; doch ist diese Auszeichnung, wie bei Uhland und anderen Dichtern und Gelehrten jener Zeit, mehr als eine in ihrem Idealismus nicht hoch genug zu schätzende Ehrung deutschen Wissens und unbeirrter Wahrheitsliebe von seiten der Wähler aufzufassen. Außer den obengenannten Hauptwerken, meist in Gemeinschaft mit Wilhelm Grimm herausgegeben, seien noch genannt: Lieder der alten Edda (1815, mit Wilhelm Grimm), » Deutsche Sagen « (I. 1816, II. 1818, mit Wilhelm Grimm); »Irische Elfenmärchen« (1826 mit Wilhelm Grimm); » Reinhart Fuchs « (1834); »Rede auf Wilhelm Grimm und über das Alter« (1860), welche letztere eine neue Sonderausgabe verdiente, vielleicht verbunden mit Ciceros gleichnamigem Werke; »Kleinere Schriften« (I-VII., 1864-1884), die auch eine kurze Selbstbiographie Jacob Grimms enthalten u. s. w. Ein vortreffliches Buch über Jacob Grimm hat Wilhelm Scherer, der verstorbene große Germanist, veröffentlicht.
Wilhelm Karl Grimm , der jüngere Bruder, am 24. Februar 1786 zu Hanau geboren, besuchte 1804 ebenfalls die Marburger Hochschule und machte hier 1806 sein juristisches Examen. Während der Herrschaft des Königs Jerôme war er ohne öffentliche Stellung; 1814 kam er nach Kassel als Bibliothekssekretär. Seit 1816 erlebte das Brüderpaar, von gleicher Hingabe und Ausdauer zu dem gleichen Berufe beseelt, dieselben äußeren Lebensschicksale, wie schon oben erwähnt. Wilhelm G. starb am 16. Dezember 1859 in Berlin. Während sein Bruder Jacob unvermählt geblieben ist, war Wilhelm G. verheiratet: ein Sohn von ihm ist der noch lebende Berliner Kunsthistoriker Hermann Grimm , der Verfasser des Michelangelo, der Vorlesungen über Goethe und zahlreicher Essays, deren stilistische Vornehmheit auf das geistige Erbe des Vaters hindeutet. Von selbständig herausgegebenen Arbeiten W. Grimms sind u. a. zu nennen: »Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen« (1811); » Die deutsche Heldensage « (1829) und »Zur geschichte des reims« (1852).
Von beiden Brüdern ist ohne Zweifel der ältere der bedeutendere. Unterstützt von einem reichen Anschauungsvermögen, rasch und glücklich im Zusammenfassen von noch so weit auseinander liegenden Thatsachen und Gegenständen, kam er leicht zu den »bedeutungsvollsten Resultaten«, während die eigentliche Kritik, wie sie ein Lachmann und Haupt bewiesen, bei seiner poetischen Veranlagung weniger stark ausgeprägt war. Die ungezwungene Lebendigkeit, die volkstümliche Frische und Anschaulichkeit seiner Sprache verleiht ihm für immer einen Ehrenplatz unter den Meistern deutscher Prosa. Wilhelm G. war nicht von der gleichen tiefen Ursprünglichkeit und Fruchtbarkeit; aber seinem wahrhaft poetischen Empfinden und seinem Verständnis für die Ausdrucksweise des Volkes ist es zu verdanken, daß neben den »Deutschen Sagen«, besonders die » Kinder- und Hausmärchen «, ein echtes Hausbuch für die deutsche Kinderwelt geworden und geblieben sind, die seit ihrem Erscheinen (1812) gleich den Sternen noch nichts von ihrem ursprünglichen Glanze verloren haben. Hier ist der naive Ton des deutschen Märchenerzählers in von anderen nie wieder erreichter Weise getroffen. Was die deutschen Romantiker, wie z. B. Tieck in seinen Phantasus-Geschichten, seiner Genoveva u. s. w. vergeblich erstrebten, die deutsch volkstümliche, schlichte Klarheit, unbewußte Gedankentiefe und wunderbare Plastik der Sprache, das finden wir in den Grimmschen »Kinder- und Hausmärchen«. Kein anderes Volk kann diesem Buche ein in seiner Gattung ähnliches an die Seite stellen. Es ist auch klassisch, wenn klassisch nicht mehr bedeuten soll als vollendet in seiner Art. Nicht mit Unrecht bemerkt ein neuerer Literarhistoriker, daß diese Märchen, »als Muster volksmäßiger Darstellung wohl für alle Zeiten unübertrefflich bleiben werden.«
Die späteren Ausgaben der »Kinder- und Hausmärchen« sind von dem oben bereits genannten Hermann Grimm besorgt worden, der in pietätvollem Verständnis ihnen die Zueignung an Bettina von Arnim aus dem Jahre 1843 wieder vorangestellt hat. Auch wir halten sie für unzertrennlich von dem wertvollen Buche und lassen sie hier folgen.
1. Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen; wenn nun der Tag sehr heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens, und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.
Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, daß man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so klagte, rief ihr jemand zu: »Was hast du vor, Königstochter, du schreist ja, daß sich ein Stein erbarmen möchte.« Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken häßlichen Kopf aus dem Wasser streckte. »Ach, du bist's, alter Wasserpatscher,« sagte sie, »ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.« »Sei still und weine nicht,« antwortete der Frosch, »ich kann wohl Rat schaffen, aber was giebst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraushole?« »Was du haben willst, lieber Frosch,« sagte sie, »meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, auch noch die goldene Krone, die ich trage.« Der Frosch antwortete: »Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine, und deine goldene Krone, die mag ich nicht; aber wenn du mich lieb haben willst und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel wieder herausholen.« »Ach ja,« sagte sie, »ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel wieder bringst.« Sie dachte aber: »Was der einfältige Frosch schwätzt, der sitzt im Wasser bei seinesgleichen und quakt, und kann keines Menschen Geselle sein.«
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