›Was sagst du da, Kind?‹ fragte sie. ›Du kannst doch unmöglich jemand im oberen Stockwerk haben spielen hören. Das Klavier steht ganz im anderen Ende des Hauses, das hört man nicht einmal bis hierher in die Küche. Außerdem wirst du wohl begreifen, daß an dem Tag, an dem die alte Dame auf den Kirchhof hinausgetragen wurde, niemand daran denkt, zu musizieren.‹
Nachdem sie das gesagt hatte, wurde es mäuschenstill in der Küche. Ich wußte recht wohl: was ich gehört hatte, hatte ich gehört, wollte jedoch nicht widersprechen.
Die Haushälterin dachte einen Augenblick nach, dann wollte sie mich aufs neue überzeugen.
›Es ist das Zimmer der alten Frau Propst, das hier über der Küche liegt,‹ sagte sie, ›und dies wäre der letzte Platz auf der ganzen Welt, wo an diesem Tag jemand musizieren würde.‹
Mir traten die Tränen in die Augen, denn ich sah wohl, daß sie meinte, ich hätte eine Unwahrheit gesagt. Und ich wäre am liebsten auf und davon gegangen, aber das konnte ich nicht, ehe ich das aufgegessen hatte, was mir vorgesetzt worden war.
Doch siehe da, als ich noch so dasaß und mich hundert Meilen weit weg wünschte, ging plötzlich die Tür auf, der Propst steckte den Kopf herein und fragte, ob seine Leute denn nicht gehört hätten, daß es zum Abendgebet geläutet habe.
Da wurden alle in der Küche verlegen, und sie begannen sich zu entschuldigen.
›Diese Lotta Hedman hier hat uns ganz außer Fassung gebracht, und so haben wir alles andere vergessen,‹ sagten sie. ›Sie behauptet, sie habe, als sie vor einer Weile in die leere Küche kam, gehört, wie im oberen Stockwerk jemand Klavier spielte; aber wir verstehen nicht, was sie meint, denn wir wissen doch, daß heute am Begräbnistag niemand eine Taste angerührt hat.‹
Und ich, ich Ärmste, die auf diese Weise angeklagt wurde, wußte nicht, was ich tun sollte. Schnell legte ich Messer und Gabel weg, schob den Teller zurück und schickte mich an, rasch zur Tür hinauszugehen.
›Ach, wenn es so ist!‹ sagte der Propst. ›Dann müssen wir alle Gott danken. Dies ist eine große Gnade. Ich wußte es ja, meine liebe Mutter würde mir einen Gruß senden, falls es in ihrer Macht stünde. Sie würde nicht für immer von mir gehen, ohne mir ein Zeichen zu geben, das für mich, der noch in der Finsternis und Ungewißheit lebt, ein Leitstern sein könnte.‹
Darauf trat er zu mir und legte mir die Hand auf den Kopf.
›Also du bist eine von den Auserwählten,‹ sagte er. ›Du bist eine von denen, die Grüße von den Toten zu den Lebendigen bringen sollen. Ja, vielleicht spricht Gott selbst einmal durch deinen Mund.‹
Mehr sagte er nicht. Er hob nur meinen Kopf in die Höhe und sah mir tief in die Augen, und dann seufzte er und ging hinaus.
Als ich später über den Fluß heimwärts ruderte, dachte ich über alles nach, was ich erlebt hatte. Und mir war, als sei ich auf eine wunderliche Weise verwandelt und als könne ich nie mehr dieselbe werden, die ich bis dahin gewesen war.
Und dies war das erstemal, wo mir etwas Merkwürdiges widerfahren war, das erstemal, wo ich Kenntnis davon bekommen hatte, daß ich dazu auserwählt war, das zu hören und zu sehen, was den Weisen und Gelehrten verborgen bleibt.
Und in diesem Augenblick dachte ich beinahe, ich würde einer von den Propheten des Herrn werden, von denen ich in der Heiligen Schrift gelesen hatte. Ich glaubte, ich würde dahin kommen, Worte auszusprechen, die ebenso lange bestehen würden wie Himmel und Erde. Ja, ich glaubte, ich würde unter den Menschen erhöht werden, und es fiel mir nimmermehr ein, zu denken, daß ich nichts weiter werden sollte, als eine arme Arbeiterin in einer Kistenfabrik.«
Die Mitkonfirmandin
Der fremde Mann dankte Lotta Hedman sehr herzlich für diese Erzählung.
»Ich bin mehr als froh, daß ich gerade heute mit diesem Zug fuhr,« sagte er. »Ach, man sollte viel öfter himmlische Musik zu hören bekommen! Dann würde vieles in der Welt anders werden.«
Als er diese Ansicht geäußert hatte, lehnte er sich in seine Ecke zurück und zog den Hut über die Augen. Aber Lotta Hedman war fest davon überzeugt, daß er es nicht tat, um zu schlafen, sondern nur um über das, was er gehört hatte, ungestört nachdenken zu können.
Nachdem einige weitere Augenblicke vergangen waren, empfand sie große Lust, mehr mit ihm zu sprechen.
»Du mußt mit diesem Mann von Sigrun reden. Du mußt dich mit ihm wegen deiner Reise beraten,« flüsterte eine mahnende Stimme in ihrem Herzen. »Aber warum soll ich mit einem Mann über Sigrun sprechen, der ihr und auch mir völlig fremd ist?« beruhigte sie sich selbst. Einen Augenblick später jedoch war die Lust aufs neue da. »Sprich mit ihm von Sigrun! Sieh ihn dir jetzt an, wo sein Hut auf die Seite gerutscht ist. Das ist ein guter Mann, der viel Kummer erlebt hat. Er hat ein demütiges Herz. Wem er auch immer begegnet, er mag noch so heruntergekommen und sündhaft sein, sicherlich hält er ihn für mehr als sich selbst. Mit diesem Mann kann man über alles sprechen. Sprich mit ihm über Sigrun!«
»Nein, Lotta Hedman, sei vorsichtig, du bist jetzt nicht daheim in Stenbroträsk, wo du alle Menschen kennst! Woher weißt du, daß dieser Mann so vortrefflich ist? Vielleicht macht er sich gerade jetzt im stillen über dich lustig,« flüsterte eine andere Stimme gleich nachher.
Der Zug fuhr und fuhr immer weiter. Von Haltestelle zu Haltestelle ging es. Leute stiegen aus und stiegen ein. An einem großen Bahnhof, wo sich mehrere Eisenbahnlinien kreuzten, verließen alle Reisende bis auf Lotta Hedman und den Mann, der ihr gerade gegenüber saß, den Wagen dritter Klasse.
Kaum waren sie allein, so richtete sich der Mann auf, legte den Hut in das Netz hinauf und begann sich mit Lotta zu unterhalten.
Er war freundlich, klug, höflich und vor allen Dingen demütig und gütig. Und gerade wegen dieser Güte konnte kein Mensch länger als fünf Minuten mit ihm zusammen sein, ohne sich danach zu sehnen, ihm alle seine Sorgen anvertrauen zu dürfen.
»Dieser Mensch wird meine Schwachheit verstehen,« dachten alle, die mit ihm zusammenkamen. »Es müßte wohltun, wenn man mit ihm reden könnte. Er würde begreifen, wie schwer ich es habe.«
So dauerte es auch nicht lange, bis sich Lotta Hedman mitten in einem Gespräch über die Kistenfabrik und die Arbeitsverhältnisse in Stenbroträsk unterbrach und sagte:
»Ich würde Sie gern wegen einer Angelegenheit um Rat fragen, die mich bedrückt. Sie wissen, ich lebe allein und habe niemand, den ich fragen könnte.«
»Sagen Sie nicht, Sie wollten mich um Rat fragen!« erwiderte er. »Einen Rat kann ich Ihnen sicher nicht geben. Aber erzählen Sie mir trotzdem, was Sie auf dem Herzen haben. Sie sprechen so gut, und die Reise ist lang. Ich selbst muß mit dem Zug bis nach Dalsland fahren. Bis ich heimkomme, dauert es noch mehrere Tage.«
»Nun also, ich war einstmals mit der ältesten Tochter des Propstes von Stenbroträsk sehr befreundet,« begann Lotta Hedman. »Wir gingen zusammen in den Konfirmationsunterricht.«
Sie konnte nicht weitersprechen, die Tränen traten ihr in die Augen.
»Ich habe noch nie einen Menschen so lieb gehabt wie sie,« fuhr sie nach einem kurzen Kampf bewegt fort. Der Mann saß ganz still da und mochte keinen Versuch, zu drängen oder zu helfen. Er sah eher entmutigt aus.
»Sie müssen mir erlauben, zu erzählen, wie es war, als sie zum erstenmal mit mir sprach, damit Sie begreifen, wie sie gewesen ist.«
»Ja, tun Sie das!« sagte er. »Es ist gewiß das beste. Beeilen Sie sich ja nicht. Wir haben den ganzen Tag vor uns.«
»Also damals, wo wir zusammen in den Konfirmationsunterricht gingen, standen wir eines Vormittags während einer Pause zu elf oder zwölf in einer Ecke des Kirchhofs beisammen und sprachen über ein Stück aus dem Katechismus. Und ich erinnere mich noch genau, wie einer von den Jungen sagte, es könne gar nicht anders sein, Gott müsse die Menschenkinder lieb haben. Er habe uns doch erschaffen, und darum müsse er wohl auch mit uns zufrieden sein.
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