»Und ich habe keine andere Zeit zum Schreiben als die Nacht,« sagte die junge Arbeiterin, »die Nacht, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, und wenn meine Finger steif und müde sind, und die schwedische Sprache ist mir nicht geläufig. Sie ist anders als die Sprache, die wir untereinander sprechen. Ich werde sehr müde vom Schreiben.
Und ich lebe in sehr traurigen Verhältnissen,« fuhr sie fort. »Ich bin arm, krank und einsam, und ich hab' eine Wohnung, mit der sich niemand anderes begnügen würde, und es graut mir vor alledem, was geschehen wird.«
Sie hatte recht gut gemerkt, wie die Teilnahme an ihren Worten verschwunden war. Ihre Stimme wurde leiser, und es kam etwas Träumerisches über sie; zuletzt sprach sie bloß noch flüsternd und mit gesenkten Blicken. Nur die ihr zunächst Sitzenden konnten die Worte noch verstehen.
»Aber ich bitte Gott, er möge mein Leben verschonen und mich in die geläuterte Schar aufnehmen. Ich bitte ihn, er möge mich zu dem letzten Drittel zählen und mich, die dazu ausersehen war, das Kommen seines tausendjährigen Reiches unter großem Hohn zu verkündigen, auch in diesem Reich leben und unter den Auserwählten sein lassen, die diese Erde in Gerechtigkeit erstrahlen sehen werden.«
Die schöne Musik
Unaufhörlich rollte der lange Zug aus dem Norden von Haltestelle, zu Haltestelle, und die Reisenden, die in demselben Abteil wie Lotta Hedman saßen, stiegen allmählich aus: zuerst der Bauer und die Bäuerin, dann die freundliche Frau, die Lotta dazu veranlaßt hatte, zu sagen, wer sie war. Als die freundliche Frau verschwunden war, kam ein Mann, der große Ähnlichkeit mit einem Laienprediger hatte, und setzte sich auf den guten Eckplatz. Er war schon vorher in demselben Wagen gewesen, hatte aber einen unbequemen Platz mitten auf einer Bank gehabt.
Dieser Mann ließ sich sofort mit Lotta Hedman in ein Gespräch ein. Er fragte sie, ob sie schon vor dem Weltkrieg Offenbarungen gehabt habe, oder ob sie erst nach dessen Beginn hellseherisch geworden sei. Er sprach mit einer sanften, leisen, sehr angenehmen Stimme, die warme Anteilnahme bezeugte, ohne geradezu Zweifel oder Glauben zu verraten. Anderen Menschen kam seine Art, sich auszudrücken, fast ärgerlich demütig vor, aber Lotta Hedman gefiel es, daß sie in einer fast ehrfurchtsvollen Weise angesprochen wurde, nachdem sie zum erstenmal vor fremden Menschen bekannt hatte, wozu sie auserwählt war.
»Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir etwas von Ihren Gesichten erzählen wollten,« sagte der Mann. »Ich weiß nicht, ob ich das verlangen kann, da ich Ihnen doch fremd bin, aber Sie dürfen überzeugt sein, ich würde es als eine große Ehre betrachten.«
Dem konnte die junge Frauensperson nicht widerstehen, und so begann sie, von dem erstenmal zu berichten, wo ihr etwas Merkwürdiges begegnet war. Doch sprach sie jetzt mit einer ganz anderen Ruhe als vorher. Sie erhob allerdings die Stimme und bekam auch jetzt mehr Zuhörer als nur den, mit dem sie sprach, aber der Mann vor ihr übte einen beruhigenden Einfluß auf sie aus und dämpfte unwillkürlich ihren Eifer.
»Ich war damals erst vierzehn Jahre alt,« begann sie, »und hatte mich soeben von einer schweren Krankheit erholt, die der Tod, mein Verfolger, mir geschickt hatte, und so war ich sehr schwach und hatte das Gefühl, wie wenn mein ganzer Körper verwelke und zusammenschrumpfe. Aber ich lebte nicht allein wie jetzt, sondern wohnte bei meinen Eltern. Und sie waren nur arme Bauersleute, aber sie nahmen Rücksicht auf meine Schwäche und ließen mich zu Hause, und ich mußte nicht zu Fremden in den Dienst gehen. Und die Mutter verlangte nichts weiter von mir, als daß ich ihr ein bißchen half und Gänge für sie machte und ihr jeden Tag ein Kapitel aus der Bibel vorlas.
Zu jener Zeit gab es noch keine Sägemühle und keine Kistenfabrik, keine Arbeiterwohnungen und noch keine eigene Gemeindeverwaltung in Stenbroträsk. Auf unserer Seite des Flusses lagen nur ein paar kleine Bauernhöfe. Die Kirche, der Pfarrhof und die größeren Bauernhöfe aber lagen am jenseitigen Ufer, wie heutigentags auch noch.
Es war an einem Sonntagabend, als die Mutter sagte, ich solle mit der Milch zur Propstei hinüberrudern. Im Sommer hatten alle anderen Bauern ihre Kühe droben auf den Almen, und so war es im Dorf mit Milch schlecht bestellt; wir waren die nächsten Nachbarn, bei denen der Propst welche bekommen konnte.
Als ich mich ins Boot gesetzt hatte und zur Propstei hinüberruderte, fiel mir das merkwürdig leicht. Es war, als sei der schwere, flache Kahn mit einem kleinen, schmalen Flußboot vertauscht worden, als habe sich das Wasser in glattes, schönes, fettes Öl verwandelt, und als seien die Ruder frohe, leichte Vogelschwingen geworden. Ganz still und ruhig war es um mich her. Ich hörte kein Knirschen an den Ruderspillen und kein Plätschern im Wasser und kein Geräusch von den Ufern her. Nicht einmal eine Kuhglocke ließ sich vernehmen. Am Flußufer saßen keine plaudernden Buben und Mädchen, und alle die Schwalben, die zwischen den Strandhügeln dem Fluß entlang ihre Wohnung hatten und sonst beständig vor ihren Nestern herumflogen, waren heute verschwunden, und man wußte nicht, wo sie sich aufhielten.
Und als ich über den Fluß hinübergerudert war, meine Milchflasche herausgenommen und mich auf den Weg nach der Propstei gemacht hatte, fiel mir das Gehen gar nicht schwer, obgleich der Hügel steil war und obgleich ich die Sonne gerade im Gesicht hatte. Die Sonne brannte nicht, und die Milchflasche war ganz leicht.
Und ich dachte im stillen, ich müsse gewiß mit großer Sehnsucht erwartet werden, und es werde mir sicher irgendwie etwas Erfreuliches bevorstehen, denn so leicht war mir der Weg nach der Propstei noch nie geworden.
Als ich in die Küche gekommen war, da war es auch dort ganz still, und ich sah keinen Menschen, der die Milch hätte in Empfang nehmen können, ich blieb also stehen und wartete an der Tür.
Fast im selben Augenblick aber, da ich hereinkam, fing jemand im oberen Stockwerk an Klavier zu spielen, und ich hörte jeden Ton so deutlich, fast wie wenn sich das Klavier in demselben Raume, wo ich stand, befunden hätte. Es klang wunderbar schön, und ich freute mich über die Abwesenheit der Mägde und der Haushälterin, nun konnte ich doch ganz ruhig dableiben und zuhören. Ich hatte gar kein Verlangen, fortzukommen. Im Gegenteil, – die ganze Nacht hätte ich dastehen und zuhören mögen und hätte es doch nicht satt bekommen.
Bis dahin hatte ich kein anderes Instrument je gehört, als eine Handharmonika oder die alte Orgel in der Kirche von Stenbroträsk, und deshalb fragte ich mich immer wieder, was für ein schönes Instrument das sein könne, auf dem gespielt werde. Und es waren keine von den Melodien, die ich kannte, sondern langgezogene Töne, die wie starke Windstöße dahergezogen kamen; sie waren voller Wohlklang und so deutlich, daß mir war, als liebkosten sie mir im Vorübergehen die Wangen.
Und während ich so atemlos lauschte, da erwachten in mir wunderbare, herrliche Gedanken. Mir war, als habe ich die Erde verlassen, als sei ich schon halbwegs droben bei Gott im Himmel.
Aber dann kamen Leute in die Küche herein, und plötzlich war das schöne Spiel vorbei.
Als die Haushälterin die Milchflasche ausgeleert hatte, brachte sie mir etwas zu essen und forderte mich auf, am Tisch Platz zu nehmen. Sie sagte, an diesem Tag sei jemand von der Propstei begraben worden. Die alte Dame, die Mutter des Propstes, sei gestorben, und mehrere von den Leidtragenden hätten bei ihnen zu Mittag gegessen. Nun wolle sie mich von dem Essen dieses Gastmahls kosten lassen.
Da sie nun so gut und freundlich gegen mich war, faßte ich mir ein Herz und fragte, wer wohl so schön im oberen Stockwerk gespielt habe.
Doch die Haushälterin war äußerst erstaunt und konnte kaum auf meine Frage antworten.
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