Aber welche Macht, welche furchtbare Macht hat doch der Ekel, da er imstande war, auf diese Weise einen solchen Mann der Selbstbeherrschung zu berauben, während er in einer christlichen Kirche auf der Kanzel stand und mitten in einer christlichen Gemeinde eine erbauende und ermahnende Predigt hielt!
In dem Augenblick, wo der Pfarrer von der Kanzel herabgestiegen war, waren auch die Leute von der Grimö aus der Kirche verschwunden.
Als sie unbelästigt aus der Kirche herausgekommen waren, blieben sie unwillkürlich vor dem Tore stehen und sahen sich um.
Rings um die Kirche her breitete sich etwas aus, was man nur selten in der Bohusläner Gegend sieht, nämlich eine richtige flache, offene Ebene. Sie war gerade nicht übermäßig groß, aber auch nicht besonders klein. Nein, sie war nicht so groß, daß man sie nicht von einem Ende bis zum anderen hätte übersehen und mit Leichtigkeit beobachten können, was bei den Nachbarn vorging, aber doch auch wieder nicht so klein, daß nicht die Kirche nebst Pfarrhaus und ein paar Dutzend Bauernhöfen gut Raum darauf gehabt hätten.
Und rings um die Ebene her lief eine nicht gerade besonders niedere, aber doch auch nicht besonders hohe Bergwand. Sie war nicht so hoch, daß nicht der Nord- und Westwind hätten darüber hereinfegen können, aber doch auch nicht so nieder, daß sie anderwärts alle Aussicht nach den hohen Bergen und Gebirgen versperrt hätte.
Und auf der ganzen Ebene breitete sich Ackerfeld neben Ackerfeld aus. Aber sie waren weder klein noch groß, sondern gerade von passender Ausdehnung für die wohlhabenden Bauern. Und zwischen den Äckern lagen rote und blaue und weiße Gebäude. Auch diese waren von ziemlich gleicher, befriedigender Größe. Es waren keine Prunkhäuser, die die Nachbarhäuser in Schatten stellten, aber es waren auch keine armen Kätnerhütten, die die Nachbarhöfe schöner erscheinen lassen und deren Bewohner hochmütig machen.
Auch das Wachstum hätte man nicht für großartig erklären können, denn man sah keine Baummassen, weder als Wälder auf den Bergen noch als Gehölze auf der Ebene noch als Baumreihen die Wege entlang. Und doch konnte man nichts anderes sagen, als daß die Ebene fruchtbar und ergiebig war, denn sie lag jetzt eben in ihrer Herbstpracht vor den Augen der Beschauer da wie ein wogendes Meer von Getreide und Gras und Erbsen und Klee und Pferdebohnen.
Und ungefähr mitten auf der Ebene lag die Kirche, aus der die Familie Elversson vorhin, sozusagen, hinausgejagt worden war. Es war eine altmodische Holzkirche, und man konnte von ihr nicht sagen, sie sei häßlich, denn sie hatte einen kleinen aufstrebenden Turm, der die Gedanken zum Himmlischen hinauslenkte, aber man konnte auch nicht sagen, sie sei schön, denn sie hatte ein dunkles, schwerfälliges langes Schiff, das die Seele wieder ins Irdische herunterdrückte.
Und auf der Mauer, die die Kirche umgab, wanderte, während die drei davorstanden, eine graugesprenkelte Katze hin und her. Es war ein schönes Tier, gut getigert, mit einem dichten glänzenden Fell und weichen, angenehmen Bewegungen.
Aber nachdem die drei die Katze eine Weile betrachtet hatten, kam es ihnen vor, als habe die Art, wie sich die Glieder in dem weichen Fell bewegten, eigentlich etwas Garstiges. Es gefiel ihnen nicht, daß die Katze so lautlos daherkam, oder daß die grüngestreiften Augen, mit denen sie einen ansah, ganz verschleiert und ohne Ausdruck waren. Diese Katze, die sich so glatt und weich und spielerisch zeigte, während sie an nichts anderes dachte, als zu rauben und zu morden, war ihnen widerlich.
Und vor ihren Augen wuchs die Katze und streckte sich und wurde groß und richtete sich hoch auf, bis sie die Bergwand verbarg. Und immerfort, während sie so wuchs und größer wurde, spann sie und schnurrte, und machte behagliche spielerische Bewegungen, wurde aber dadurch nur immer widerwärtiger.
Und die drei vor der Kirche sahen, diese Katze war der Ekel, der jetzt hervorgerufen worden war und der wachsen und sich auf der ganzen Ebene ausbreiten würde und nirgends ein besseres Wachstum finden könnte, als hier zwischen all dem Gleichmäßigen und gleich Großen und Engen und Begrenzten.
Da drehte sich Mutter Natalie Elversson nach der Kirche um, kratzte mit ihrem Fingernagel ein paar kleine Spreißel von der rotangestrichenen Holzwand heraus und legte sie zwischen die Blätter ihres Gesangbuches.
»Ja, in dieser Kirche,« sagte sie, »hat man mich als ein siebentägiges Kind getauft, hier wurde ich als fünfzehnjähriges Mägdlein konfirmiert, hier bin ich auch getraut worden, und hier wird man mich wohl auch begraben, aber bis dahin will ich hier nichts wieder zu schaffen haben, bevor die Schmach, die mir heute angetan worden ist, ausgelöscht ist.«
Sohn und Eltern
Je besser die beiden alten Leute auf der Grimö allmählich ihren Sohn Sven kennen lernten, desto mehr verwunderten sie sich über ihn.
»Ich will dir etwas sagen, Joel,« sagte die Frau zu ihrem Manne, »wenn ich wie er zu einem Herrn erzogen und dann gezwungen worden wäre, alle meine vornehmen Gewohnheiten ganz plötzlich abzulegen, und wenn ich solches Essen verzehren müßte, wie das, was ihm hier bei uns geboten wird, nachdem ich doch an Besseres gewöhnt war, wenn ich jeden Tag mit dir hinaus müßte, um dir auf dem Acker zu helfen, und niemals ein Buch lesen und mich nie mit besseren Leuten aussprechen könnte, sondern nur mit so ein paar dummen alten Brummbären wie du und ich, dann wäre ich sauertöpfisch und bösartig vom Morgen bis zum Abend, und ich glaube, dir würde es geradeso gehen.«
Joel gab das willig zu. Jawohl, auch für ihn würde das eine schwere Prüfung sein.
»Aber da sieh nun Sven!« fuhr Thala fort. »Es ist, als berühre ihn das alles ganz und gar nicht. Auch grämt er sich nicht um das Geld oder die Freunde und dergleichen, die er verloren hat. Hier kann er mit mir scherzen und lachen und sich mit dir unterhalten, ohne nach anderer Gesellschaft zu verlangen, in der er sich zerstreuen könnte. Einen Tag wie den anderen ist er freundlich und demütig und zufrieden wie ein Gotteslamm. Eigentlich gibt es nur ein Einziges, was ihn in schlechte Laune versetzt.«
»Was mich anbelangt, so kann ich ihn deshalb nicht weniger hoch stellen, wenn er in diesem Punkt empfindlich ist. Die Ehre verlieren, das ist das Schwerste, was einem widerfahren kann.«
»Ja natürlich,« versetzte die Frau, »und es ist auch schändlich, daß die Leute sich nicht an ihn gewöhnen können. Er kann nicht auf die Post oder in einen Laden gehen, ohne jemand zu treffen, der die Nase über ihn rümpft oder ihm ein Schimpfwort an den Kopf wirft. Ich aber, das weiß ich, ich bin nur dankbar dafür, daß er den Bissen damals gegessen hat. Sven übertrifft unsere anderen Kinder so weit wie die Sonne den Mond, und ohne jenen Bissen hätte ich ihn nie wieder zu sehen bekommen.«
In dieser Weise sprach sich Mutter Elversson jeden Tag aus. So oft sie mit ihrem Manne allein war, sofort begann sie sich in Lobeserhebungen über den Sohn zu ergehen.
»Du hast wohl gar keinen Begriff davon, Joel, wie merkwürdig Sven ist,« pflegte sie zu sagen. »Aber eigentlich müßtest du es schon an mir merken. Siehst du nicht, wie gut ich mich wasche und kämme und wie ich fege und bürste und schrubbe? Ja, du meinst vielleicht gar, das geschehe deinetwegen?«
»O, du bist immer darauf ausgewesen, alles um dich her sauber zu haben,« sagte Joel, der gerne den Leuten Artigkeiten sagte, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.
»Es ist nicht nur das,« fuhr seine Frau fort. »Aber ich bin jetzt nie mehr zornig. Nein, sanft wie ein Flaumflöckchen bin ich. Hast du je so ein Lächeln gesehen, wie Sven eines hat? Wenn mich andere Leute freundlich ansehen, werde ich vergnügt, wenn mich aber Sven anlächelt, ist mir, als könnte ich mich nackt ins Meer stürzen, sobald er es verlangte.«
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