Und wenn du von alledem liesest, was hier in Stockholm vereint ist, Klement, so vergiß nicht das letzte, was diese Stadt an sich gezogen hat. Das sind diese alten Bauerhäuser auf der Schanze. Das sind Spielleute und Märchenerzähler. Alles, was alt und gut ist, hat Stockholm hier nach der Schanze hinaufgezogen, um es zu ehren, und damit es draußen im Volk zu Ehren kommen soll.
Vor allen Dingen aber, Klemmt, vergiß nicht, daß, wenn du von Stockholm liest, du hier an diesem Platz sitzen mußt. Du sollst das muntere, glitzernde Spiel der Wellen und die strahlenden, grünen Küsten anschauen. Du mußt dafür sorgen, daß du von dem Zauber erfaßt wirst, Klement!«
Der schöne, alte Herr hatte die Stimme erhoben, so daß sie stark und gebieterisch klang, und seine Augen blitzten. Nun erhob er sich, machte eine Bewegung mit der Hand und verließ Klement. Und im selben Augenblick wurde es Klement klar, daß es ein sehr vornehmer Herr sein müsse, der mit ihm geredet hatte, und er verbeugte sich, so tief er konnte.
*
Am nächsten Tag kam ein königlicher Lakai mit einem großen, roten Buch und einem Brief an Klement, und in dem Briefe stand, daß das Buch vom König sei.
Von diesem Augenblick an war der kleine, alte Klement Larsson viele Tage lang ganz aus dem Häuschen, und es war fast unmöglich, ein vernünftiges Wort aus ihm herauszubringen. Als eine Woche vergangen war, ging er zu Doktor Hagelius und kündigte seine Stellung. Er sei gezwungen, nach Hause zu reisen. »Was hast du da zu suchen? Plagt dich noch immer das Heimweh?« fragte der Doktor, – »Ach nein,« sagte Klement, »damit hat es jetzt nichts mehr auf sich, aber ich muß trotzdem nach Hause.«
Klement war sehr mit sich zu Rate gegangen, denn der König hatte gesagt, er solle sich mit Stockholm vertraut machen und suchen, sich dort zurecht zu finden, aber Klement konnte es nicht aushalten, ehe er denen daheim nicht erzählt hatte, daß der König ihm dies gesagt habe. Er konnte nicht anders, er mußte daheim auf dem Kirchenhügel stehen und vornehm und gering erzählen, daß der König so gut gegen ihn gewesen sei, daß er auf derselben Bank mit ihm gesessen und ihm ein Buch geschenkt und sich Zeit gelassen habe, mit ihm, einem armen, alten Spielmann, eine ganze Stunde zu reden, um ihn von seinem Heimweh zu kurieren. Es war etwas Großes, es den Lappen und den Mädchen aus Dalarna hier auf der Schanze zu erzählen, aber das war doch nichts dagegen, es daheim zu erzählen!
Wenn Klement auch im Armenhause stranden sollte, so würde das nach diesem nicht so hart sein. Er war jetzt ein ganz anderer Mann als vorher, und würde auf ganz andere Weise geachtet und geehrt werden.
Und dies neue Sehnen wurde Klement zu stark. Er mußte zum Doktor und ihm sagen, daß er gezwungen sei, zu reisen.
XXXVII. Der Adler Gorgo
Im Felsental.
Hoch oben im lappländischen Gebirge, auf einem Felsenvorsprung, der über eine schroffe Bergwand hinausragte, lag ein alter Adlerhorst. Das Nest bestand aus Tannenzweigen, die schichtenweise quer übereinandergelegt waren. Jahr für Jahr war es erweitert und erhöht worden und lag nun dort auf seinem Felsgesims mehrere Ellen breit und fast so hoch wie eine Lappenhütte.
Der Grat, auf dem das Adlernest lag, türmte sich über einem ziemlich großen Tal auf, das im Sommer von einer Schar Wildgänse bewohnt wurde. Das Tal war ein ausgezeichneter Zufluchtsort für sie. Es lag so gut versteckt zwischen den Bergen, daß nur vereinzelte Leute davon wußten, selbst von den Lappen kamen nur wenige dorthin. Mitten im Tal lag ein kleiner, runder See, der reichlich Nahrung für die jungen Gänse lieferte, und an den Ufern, die voll von Erderhöhungen waren und an denen niedriges Weidengestrüpp und verkrüppelte Birken wuchsen, gab es die besten Brutplätze, die sich die Gänse nur wünschen konnten.
Seit undenklichen Zeiten hatten Adler dort oben auf dem Felsgrat gewohnt und Wildgänse unten im Tal. Jedes Jahr raubten die Adler einige von den Wildgänsen, sie hüteten sich jedoch, so viele zu rauben, daß die Wildgänse aus dem Tal verscheucht worden wären. Die Wildgänse ihrerseits hatten auch keinen geringen Nutzen von den Adlern. Räuber waren sie freilich, aber sie hielten andere Räuber fern.
Einige Jahre vor der Zeit, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen umherreiste, stand die alte Führergans Akka von Kebnekajse eines Morgens unten in dem Felsental und sah zu dem Adlerhorst hinauf. Die Adler pflegten kurz nach Sonnenuntergang auf die Jagd hinauszuziehen, und in allen den Sommern, die Akka in dem Tal gewohnt hatte, war sie jeden Morgen auf dem Posten gewesen und hatte acht gegeben, ob die Adler im Tale bleiben würden, um dort zu jagen, oder ob sie nach anderen Jagdgefilden hinausflogen.
Sie brauchte nicht lange zu warten, bis die beiden stattlichen Vögel die Felsplatte verließen. Schön, aber schreckeinflößend schwebten sie in die Luft hinaus. Sie schlugen die Richtung nach dem Flachlande ein, und Akka atmete erleichtert auf.
Die alte Führergans war jetzt zu alt, um Eier zu legen und Junge auszubrüten, und sie pflegte sich im Sommer die Zeit damit zu vertreiben, daß sie von einem Gänsenest zum anderen ging und Ratschläge in bezug auf das Ausbrüten und Aufziehen der Jungen erteilte. Sie hielt außerdem Ausguck nach den Adlern wie auch nach den Bergfüchsen, den Eulen und allen den anderen Feinden, die möglicherweise den Wildgänsen und ihrer Brut nachstellen konnten.
Um die Mittagszeit spähte Akka abermals nach den Adlern aus. Das hatte sie nun alle die Sommer, die sie dort im Tal gewohnt hatte, jeden Tag getan. Sie konnte es ihrem Fluge immer gleich ansehen, ob sie eine gute Jagd gehabt hatten, und dann fühlte sie sich in bezug auf ihr Volk beruhigt. Heute aber sah sie die Adler nicht zurückkehren. »Ich muß alt und stumpfsinnig geworden sein,« dachte sie, nachdem sie eine Weile gewartet hatte. »Jetzt müssen die Adler doch längst nach Hause gekommen sein.«
Am Nachmittag lugte sie wieder zu der Felswand hinauf und erwartete, die Adler auf dem schroffen Vorsprung sitzen zu sehen, wo sie ihre Nachmittagsruhe zu halten pflegten; und am Abend, um die Zeit, wo sie ihr Bad im Bergsee zu nehmen pflegten, spähte sie wieder nach ihnen aus, aber es gelang ihr nicht, sie zu entdecken. Wieder jammerte sie, daß sie alt werde. Sie war es so gewohnt, daß die Adler auf dem Felsgrat über ihr hausten, daher konnte sie es sich gar nicht denken, daß sie nicht wieder zurückgekehrt sein sollten.
Am nächsten Morgen war Akka rechtzeitig wach, um nach den Adlern auszulugen. Aber auch jetzt gewahrte sie sie nicht. Dahingegen vernahm sie in der Morgenstille einen Schrei, der wütend und klagend zugleich klang und aus dem Adlerhorst zu kommen schien. »Ob da oben im Adlernest wirklich ein Unglück geschehen sein sollte?« dachte sie. Sie breitete die Flügel aus und stieg so hoch, daß sie in das Adlernest hineinsehen konnte.
Da oben entdeckte sie nichts von dem Adlerpaar. In dem ganzen Nest war nur ein halbnacktes Junges, das da lag und nach Nahrung schrie.
Akka senkte sich langsam und zögernd zu dem Adlerhorst hinab. Es war ein unheimlicher Ort! Man konnte gleich sehen, was für Räuber da hausten. In dem Nest und auf der Felsenplatte lagen gebleichte Knochen, blutige Federn, Hasenköpfe, Vogelschnäbel und mit Federn bekleidete Schneehühnerfüße. Auch der junge Adler, der mitten in allen diesen Überbleibseln lag, sah widerlich aus mit seinem großen, weit aufgesperrten Schnabel, seinem plumpen, flaumigen Körper und seinen unfertigen Flügeln.
Schließlich überwand Akka ihr Grauen und ließ sich auf den Rand des Nestes nieder, sah sich dabei aber unruhig nach allen Seiten um, denn sie erwartete jeden Augenblick, die alten Adler heimkehren zu sehen.
»Gut, daß endlich jemand kommt!« rief der junge Adler. »Schaff' mir gleich was zu essen!«
Читать дальше