Valazar war einer der wenigen Menschen, der an die Grenzen der Unbekannten Lande vorstoßen konnte, um dort die sieben Ringe zu stehlen. Seitdem sind sie in den Händen der Menschen.
Als die Vampire dann im Jahre 1164 vom Angesicht der Welt verschwanden blieben die Ringe als letztes Andenken an ihre überlegene Rasse.
Aaron zog überrascht seine Brauen in die Höhen, als er in dem Buch den wahren Namen des Letzten Herrschers fand; die meisten jüngeren Menschen kannten seinen Namen gar nicht mehr. Für sie war der Herrscher des Ordens der Letzte Herrscher, der Gott, der über ihnen allen stand. Ein Name war etwas Menschliches und daher legte der Orden wert darauf, die Aussprache seines Namens weitestgehend zu vermeiden. In den Augen der Menschen war ihre Begrüßungsformel eine Erinnerung an einen großen Krieger des Ordens während der Zeit der Vampirkriege; dass Valazar in 'Vivat Valazar', der Name des Letzten Herrschers war, das wussten die Wenigsten.
Der Letzte Herrscher legte großen Wert darauf, diese beiden Personen in den Gedanken der Menschen zu differenzieren. Valazar sollte als Kriegsheld in die Geschichte eingehen und verehrt werden, doch niemand sollte den Krieger mit dem jetzigen Herrscher in Verbindung bringen. Der Letzte Herrscher war Gott und würde es im Verstand des Volkes auch immer bleiben und gewesen sein; eine bekannte menschliche Vergangenheit nähme ihm etwas von seiner unantastbaren Autorität.
Diese Ringe machen also unsterblich, nun sieh mal einer an; die Frage, wieso Lyras, Savaron und Ragnir nicht altern, dürfte damit wohl geklärt sein.
Auf einmal erstarrte er und seine Augen weiteten sich, seine Hand umklammerte die Seite des Buchs.
„Verdammt!“, stieß er leise aus.
„Was ist denn los?“, fragte Eric und sah über Aarons Schulter auf das Buch hinab.
„Kontaktgift an den Seiten? Eine Falle? Was ist los?“
Aaron schüttelte den Kopf und fuhr mit der Hand über das alte Pergament, biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Wutschrei.
„Die Seite, auf der steht, wie man den Ring als Waffe benutzen kann …“
„Ja, was ist mit ihr?“
Aaron ballte seine Hand zur Faust, schlug damit heftig auf den Tisch und Staub wirbelte auf.
„Sie fehlt! Jemand hat sie herausgerissen!“
Aaron deutete auf das Buch und fuhr mit seinen Fingerspitzen die ausgefransten Seiten einer heraus gerissenen Seite entlang.
„Auf der Seite stand, wie man die Ringe als Waffe benutzen kann! Wenn wir davon ausgehen, dass der Mörder dieses Buch hier ebenfalls gelesen hat, müssen wir nun damit rechnen, dass er weiß wie diese Ringe zu verwenden sind. Wir allerdings haben nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung, wozu die verdammten Dinger gut sein könnten! Wie geht man gegen etwas vor, das man nicht versteht, hm? Eben! Gar nicht! Verfluchter Mist!“
Aaron hielt sich eine Hand an die Stirn, schlug sich leicht dagegen und dachte nach.
Wie viele Leute haben Zugang zu diesem Raum? Nur eine, nämlich der Erzbischof. Aber wieso sollte der Erzbischof eine Seite seines eigenen Buches stehlen? Niemand außer ihm und dem Letzten Herrscher dürfen es lesen … also muss entweder jemand eingebrochen sein, so wie wir, oder der Erzbischof hat die Seite für jemanden mitgenommen oder sie entfernt, damit niemand von den Möglichkeiten der Ringe erfährt.
„Beruhige dich erst einmal, wir wissen doch gar nicht, ob der, den du suchst, wirklich die Seite hat und selbst wenn, bräuchte er ja auch die Ringe dazu. Wir sollten erst einmal gehen, die Wachen werden sicher bald bemerken, dass etwas faul ist“, versuchte Eric ihn zu beruhigen und legte Aaron eine Hand auf die Schulter.
Aaron wollte widersprechen, er öffnete gerade den Mund, um zu antworten, doch er faltete die Hände vor dem Gesicht und nickte leicht. Eric hatte Recht, es würde nichts bringen, länger hier zu bleiben und damit das Risiko zu erhöhen, doch noch erwischt zu werden. Plötzlich drangen laute und aufgeregte Stimmen an ihre Ohren, verdrängten die eisige Stille.
Laut polternde Schritte hallten durch die Bibliothek und sie konnten es ganz leise hören, genauso wie das Klirren von Metall.
„Wachen!“, fluchte Eric leise und warf einen ängstlichen Blick auf den Eingang des Ganges. Wenn man sie hier drinnen fände, hätten sie keine Chance mehr, zu entkommen.
„Wir müssen hier weg, verdammt! Los!“, zischte Eric und packte Aaron fest am Arm, wollte diesen wegzerren, aber Aaron riss sich los und legte eine Hand auf die Seite mit den Beschreibungen der Vampirringe, die Informationen von denen alles abhing.
„Ich brauche diese Informationen!“, flüsterte Aaron.
„Das Buch ist verdammt schwer, das wirst du nicht mitnehmen können!“, presste Eric leise hervor und zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als das Geräusch von gezogenen Klingen an ihre Ohren drang, das Kratzen, wenn man sie aus der Scheide zog; jemand bellte laut Befehle.
„Ich hatte nie vor, das Buch mitzunehmen!“, erwiderte Aaron, ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus und mit einem lauten Ratschen riss er die Seite aus dem Buch, steckte sie hastig ein.
„Du hast da gerade … eine Seite aus der Prohibita herausge … gerissen …“, stammelte Eric und Aaron schnaubte leise.
„Fängst du auch schon an! Du wirst der Bibliothekarin immer ähnlicher! Und jetzt lass uns hier verschwinden! Sofort!“
Leise fluchend presste er sich an das Bücherregal, lauschte dem Geräusch sich nähernder Schritte. Eric kauerte neben ihm, die Hand fest um den Griff eines Dolchs geschlossen, den er aus seinem Mantel gezogen hatte. Schreie hallten durch die Bibliothek, erfüllten sie mit Angst.
Wenn man uns hier findet, ist das unser sicheres Todesurteil; vor allem, wenn sie herausfinden, dass wir in dem verbotenen Abteil gewesen sind.
Vorsichtig spähte Aaron um eine Ecke, kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Sie waren schon in der Nähe des Hinterausgangs, aber die Wachen liefen in solch unregelmäßigen Abständen umher, dass es unmöglich war, vorherzusagen, wann man sicher entkommen konnte. Es lief wohl alles darauf hinaus, dass sie eine der Wachen würden töten müssen. Aaron legte seine Hand auf den Griff seines Schwertes, ging leicht in die Hocke, den Hinterausgang genau im Visier.
„Scheiße, ich wusste, das würde böse enden!“, zischte Eric leise und fuhr mit seinen zwei Fingern über die Klinge des Dolches, als spende ihm dies etwas Sicherheit.
„Da siehst du mal wie es mir seit meinem dreizehnten Lebensjahr geht. Es hat dich niemand gezwungen, mitzukommen“, antwortete Aaron leise, lehnte sich gegen das Bücherregal und behielt die Tür nach draußen im Auge.
Der Schein einer sich nähernden Fackel fiel auf den langen Gang, an dem das ihnen als Versteck dienende Bücherregal grenzte, die Geräusche der schnellen Schritte verstummten augenblicklich und sie hörten, wie einige Klingen gezogen wurden.
„Sie wollen uns überraschen!“, flüsterte Aaron leise und spähte erneut um die Ecke. Ein Trupp von drei Männern näherte sich ihnen langsam, die Fackel hielten sie gesenkt, damit das Licht nicht ganz so hell schien.
Wenn wir länger hier bleiben und zögern, wird mit Sicherheit ein weiterer Trupp von der Seite kommen und uns hinaustreiben; dann liefen wir den anderen direkt in die Messer!
„Kommt heraus, Bastarde!“, schrie eine der Wachen und sah sich suchend um. Aaron sah die Augen hinter dem Visier des Helms böse funkeln und schluckte den Fluch herunter, der ihm beinahe über die Lippen gerutscht wäre.
„Alle Wachen der Altstadt sind hier, wir haben sie sofort gerufen, als wir erfahren haben, dass hier jemand eingebrochen ist! Und wir haben euch absichtlich viel Zeit gelassen, damit ihr euch schön sicher fühlt! Na, wie findet ihr das?“
„Hundsfott“, grummelte Eric leise und ein schwaches Lächeln stahl sich auf Aarons Gesicht, doch es änderte nichts an ihrer scheinbar aussichtslosen Situation. Aaron wollte es um jeden Preis vermeiden, einen Mord zu begehen, doch anscheinend gab es keinen anderen Ausweg.
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