»Jochen?«
»Mhm?«
»Du verarschst mich aber momentan kolossal, oder?«
Jochen zuckte die breiten Schultern, ohne auch nur im Geringsten beleidigt zu sein. »Alle sagen das an der Stelle, das weiß ich von den anderen Jungs. Aber frag einfach den Käpten.«
»Ja, klar, den Käpten! Mit dem wollt ich schon lange mal eine ausgiebige Männerrunde quatschen. Mann - ! Meinst du, ich möchte freiwillig auf der Osterinsel an Land gesetzt werden und dort warten, bis die ›Symphony‹ nächstes Jahr wieder vorbeikommt?«
»Och, ich weiß gar nicht, ob wir diesmal die Osterinsel anlaufen. Und so streng ist er auch wieder nicht. Ich glaube, fragen könntest du ihn schon. Obwohl, das dürfte ein sensibles Thema bei ihm sein. Also glaubst du lieber doch einfach deinem grundehrlichen Kollegen.«
»War das wirklich ernst gemeint, dass du auf unseren Toten so reagiert hast?«
»Wie - reagiert?« Jochen war heute zum Spielen aufgelegt. Womöglich auch nicht ganz ausgelastet nach der ersten Hälfte der Schicht, die er wie Adam gerade hinter sich gebracht hatte.
»Ja - als würde da halt was nicht stimmen mit diesem Todesfall, das eben.«
»Jeder Todesfall auf diesem Schiff ist potenziell verdächtig. Aber wenn der Doc meint, das war nur ein Dosierfehler...«
»Kann er ihn eigentlich aufschneiden, hier an Bord? Also, eine Obduktion vornehmen?«
»Gott bewahre! Den geheiligten Operationsraum mit Leichen zu verunreinigen... Und ich glaube auch nicht, dass er dazu ausgebildet ist.«
»Wieso? Die müssen im Vorphysikum doch auch an Toten herumschnippeln. Also sollte er das können.«
»Hey, was du alles weißt!«
Aufpassen, Adam! »Hab' ich von einem ehemaligen Schulkameraden gehört, und der hat dann auch das Handtuch geschmissen und das Medizinstudium obendrein, weil's ihm arg vor den eingelegten Leichen gegraust hat. Danach hat er, glaub ich, bei einem Paketdienst angefangen.
Oder als Pizzafahrer bei einer Fastfood-Kette. Weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr genau. Aber nochmal: Kann der Doc nicht obduzieren, darf er nicht - oder mag er nicht?«
»Vielleicht mag er nicht, weil er auch ohne das schon alle Hände voll zu tun hat. Das ist übrigens ein ganz netter, also stress ihn nicht zu sehr.«
»Weiß ich, und werd ich nicht. Ich war ja schon mit ihm da oben bei dem Leichenfund.«
»Und er ist seit dem Stapellauf dabei. Ellen übrigens auch, obwohl das nur die wenigsten so lange aushalten.«
»Wer?«
»Na, die Krankenschwester.«
»Ach so, ja. Die mit der wilden Frisur.«
»Hey, Adam, ich glaub glatt, die ist noch solo. Die würde doch prima zu dir passen, oder?«
»Nein, du. Mit den Frauen bin ich durch, ein für allemal. Ist mal was gewaltig schiefgelaufen, frag erst gar nicht.«
»Schiefgelaufen?« Jochen erstarrte regelrecht. Bis auf seine Augen: Die nämlich folgten schreckgeweitet einer imaginären Linie geradewegs unter die Tischplatte.
»Nein, du Scherzkeks! So schiefgelaufen auch wieder nicht. Einfach mehr seelisch, verstehst.« Jetzt wurde er lauter, damit der Dödel vor ihm es endlich kapierte: »Enttäuschte Liebe halt, Menschenskind! Die Braut hat mich abgezockt und dann fallen gelassen.«
»Ach so! Sag das doch gleich, hab mich direkt erschrocken. Aber...« Übern Tisch hinüber klopfte er Adam auf die Schulter. Seine Arme waren verhältnismäßig so lang wie der Rest seines Gestells und der Tisch verhältnismäßig so knapp bemessen wie alles im Personalbereich des Schiffes. »...auf Regen folgt Sonne, oder?«
»Ich hab Sonnenallergie,« maulte Adam.
Der Leichenfund schien Adam eine Art Karrieresprung zu bescheren. Zumindest lernte er schon wenige Stunden später, nach dem Abendessen, eine Menge wichtiger Leute persönlich kennen, die er vorher nur hin und wieder von weitem gesehen hatte. Heute erkundigten sie sich alle nach dem Befinden seiner Leiche - oder besser gesagt eher danach, warum sie sich nicht mehr befand. In der Welt der Lebenden nämlich. Noch auf dem Weg von seinem Kantinenplatz bis zum Ausgang machte er unter anderem die Bekanntschaft des Kreuzfahrtdirektors Josh Reno (zuständig für Bordtheater, Kino und sämtliche Landausflüge), des Barpianisten Ruggiero di Mauro und des Chefs der Bordfeuerwehr Lasse Nerlich. Sogar den Quartiermeister Ferdinand Moss lernte er kennen, und der war wirklich ein hohes Tier an Bord. In der altmodischen Sprache der Nautik bedeutete sein Titel »Hoteldirektor« oder gar »Hotelmanager«.
Wer von denen allen welchen Rang bekleidete, hätte Adam sonst nicht auf Anhieb parat gehabt, aber es stand auf den dezenten Namensschildchen über ihren Brusttaschen. Die Leute vom Sicherheitsdienst hatten so etwas nicht, da war nur die Funktion (Bordsecurity) in die Schulterstücke eingestickt. Sollte ja auch nicht gleich jedem, der Übles im Schilde führte, von weitem auffallen, wenn ihn einer von der Schiffspolizei auf dem Kieker hatte.
Insbesondere der Quartiermeister blieb ihm in Erinnerung: Moss war ein sympathischer, fast schon väterlicher Typ um die Fünfzig. Nun, wahrscheinlich musste man diese Art Führungsqualitäten besitzen, um einen Personalstab von geschätzt fünfhundert Mann an der kurzen Leine zu führen, ohne dass sich alle gegängelt fühlten. Die übrigen vierhundert Crewmitglieder waren damit beschäftigt, das Schiff sicher von Hafen zu Hafen zu transportieren und die Versorgungssysteme an Bord wie Müllverbrennung, Kanalisation und Entsalzungsanlage am Laufen zu halten. Und natürlich den Maschinenraum mit all seinen überlebenswichtigen Anhängseln wie Bugstrahlruder, Propellerschrauben, Stromgeneratoren, Abgasanlage, Echolot, Radar... und, und, und.
Jedem von seinen neuen Bekannten sagte Adam dasselbe: dass Dr. Mertens einen Dosierungsfehler vermute und es sich demnach im weitesten Sinne um einen natürlichen Todesfall handle.
Die kleine Maus erwähnte er nicht. Von der wusste außer dem Doc bisher nur Jochen. Sie waren übereingekommen, über das Tierchen besser kein Wort zu verlieren.
Wenn sich so etwas herumsprach, dann kam es garantiert immer zuerst an die Falschen. Und Hygienemängel solchen Ausmaßes auf einem Schiff knapp an der Grenze zur Luxusklasse - nicht auszudenken! Adam dachte an das Heer von Anwälten und an die Schweigeklausel, die er unterzeichnet hatte. Um nichts auf der Welt wollte er hier rausfliegen - runter von diesem Schiff, das mit all seinen ungewohnten Anforderungen und der Enge seiner Dienstbotenquartiere doch auf eine schwer definierbare Weise das reinste Paradies für ihn war. Weil es ihm erlaubte, trotz schwerer Fehler in der Vergangenheit weiterhin die Arbeit zu tun, die er liebte, für die er geschaffen war - für die er brannte. Auch wenn dieses Feuer momentan mangels verbrechensmäßiger Auslastung nur schwach vor sich hin glühte.
Die Tage eines Security Stewards waren lang - wie die aller dienstbaren Geister, die dieses Riesenschiff am Laufen hielten. Aber für jeden von guter Konstitution war der Dienst an Bord die Opfer wert: Dieses Leben bereicherte den Erfahrungsschatz ungemein, ab und zu bekam man sogar ein wenig von den Ländern mit, die die »Symphony« - nein, nicht besuchte, eher anstupste. Und der Verdienst war leicht doppelt so hoch wie bei einer vergleichbaren Arbeit an Land. Was auch nötig war, insbesondere für Adam Asbeck, denn der hatte jeden Anspruch auf Pension aus seinem früheren Leben verwirkt.
An diesem Abend, wie an den meisten, seit er auf der »Symphony« arbeitete, verbrachte er seine Freizeit in der kleinen, abgelegenen Jazzbar auf Deck acht - was ihm als Mitglied der Decksbesatzung auch gestattet war, im Gegensatz zu den Leuten, die sozusagen unter Tage schufteten und sich mit der Personalbar begnügen mussten. Heute wurde er besonders ungeduldig erwartet von seinem Onkel Max Leitner, dem der Fahrtwind schon allerhand zugetragen hatte.
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