(§ 54.) Wenn sonach selbst das Lob der Tugenden, in dem sich die Ausführungen der übrigen Philosophen hauptsächlich so stolz ergehen, zu keinem Ergebnisse führen kann, so lange es nicht auf die Lust gerichtet wird, und wenn die Lust allein es ist, die uns durch ihre Natur anruft und anlockt, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass sie das höchste und äusserste Gut ist, und dass das glückliche Leben nur in einem von Lust erfüllten Leben besteht.
Kap. XVII. (§ 55.) Ich will nun kurz darlegen, was mit diesem festen und gesicherten Grundsatz verknüpft ist. In dem höchsten Gut und Übel, d.h. in der Lust oder in dem Schmerze, kann man sich nicht irren, aber wohl kann man in den Gegenständen fehlgreifen, wenn man nicht weiss, aus welchen Ursachen jene hervorgehen. Wir gestehen, dass die Lust und der Schmerz der Seele aus der Lust und dem Schmerz des Körpers entsteht. Ich gebe deshalb zu, dass, wenn Einzelne von uns hier anderer Ansicht sind, dies, wie Du sagtest, die Sache verloren macht; es sind dies zwar Viele, aber doch nur Unerfahrene. Wenn auch die Lust der Seele uns Freude macht und ihr Schmerz uns unangenehm ist, so entspringen doch beiderlei Gefühle aus dem Körper und werden auf ihn bezogen. Doch kann trotzdem die Lust und der Schmerz der Seele viel grösser als die des Körpers sein; denn mit dem Körper kann man nur das Gegenwärtige und Anwesende empfinden, mit der Seele aber auch das Vergangene und Kommende. Wenn man auch bei körperlichen Schmerzen ebenso in der Seele leidet, so kann doch dieses Gefühl erheblich steigen, wenn man meint, von einem dauernden und endlosen Übel bedroht zu sein; und dasselbe gilt von der Lust, sie steigt, wenn man nichts dergleichen befürchtet.
(§ 56.) So erhellt schon hieraus, dass die grösste Lust und der grösste Schmerz der Seele von höherer Bedeutung für das glückliche oder elende Leben ist, als beiderlei Empfindung, wenn sie gleich lange im Körper ist. Nach unserer Ansicht folgt aus der Entziehung der Lust nicht sofort die Traurigkeit; es müsste denn an Stelle der Lust zufällig ein Schmerz getreten sein; aber umgekehrt erfreut der Nachlass der Schmerzen, auch wenn keine die Sinne erregende Lust nachfolgt, und daraus kann man ersehn, welche grosse Lust in der Schmerzlosigkeit enthalten ist.
(§ 57.) Ebenso wie man durch die Güter, welche man erwartet, aufgerichtet wird, freut man sich ihrer in der Erinnerung. Nur die Thoren quälen sich mit dem Andenken der vergangenen Schmerzen, während der Weise sich an den vergangenen Gütern erfreut, die er in dankbarer Erinnerung sich erneut; denn es liegt in unserer Macht, das Unangenehme gleichsam in ewiges Vergessen zu hüllen und des Angenehmen sich gern und freudig zu erinnern. Betrachtet man aber das Vergangene scharf und aufmerksam, so ereignet es sich, dass, wenn es ein Übel gewesen, man traurig, und wenn es ein Gut gewesen, man fröhlich wird.
Kap. XVIII. Oh! wie herrlich und offen und leicht und gerade aus führt nicht dieser Weg zum glücklichen Leben! Wenn es nichts Besseres für den Menschen geben kann, als frei zu sein vor jedem Schmerz und Unbehagen und die höchste Lust der Seele und des Körpers zu gemessen, seht Ihr da nicht, dass dann nichts, was das Leben fördert, übersehen ist, um das erstrebte höchste Gut so leicht als möglich zu erreichen. Epikur hat es laut genug ausgesprochen, dass Der, welcher, wie Ihr sagt, den Lüsten zu sehr ergeben ist, nicht angenehm leben könne, wenn er nicht weise, anständig und gerecht lebe, und dass er nicht weise, anständig und gerecht lebe, wenn er nicht angenehm lebe.
(§ 58.) Denn selbst ein Staat kann im Aufruhr nicht glücklich sein, noch ein Haus, wenn die Herren uneinig sind; viel weniger kann daher die Seele, welche in Streit und Uneinigkeit mit sich selbst ist, irgend etwas von der reinen und feinern Lust geniessen. Wessen Absichten und Bestrebungen immer einander widersprechend und im Streit sind, der kann von Ruhe und Zufriedenheit nichts empfinden.
(§ 59.) Wenn schon durch schwere Krankheiten des Körpers die Annehmlichkeiten des Lebens gehemmt werden, um wie viel mehr muss das durch Krankheiten der Seele geschehen. Die Krankheiten der Seele bestehn eben in den ungemässigten und eitlen Begierden nach Reichthum, Ruhm, Herrschaft und sinnlicher Lust; dazu kommen Verstimmung, Traurigkeit, Kummer, welche den Geist verzehren und durch Sorgen erschöpfen, wenn der Mensch übersieht, dass die Seele nur das schmerzen kann, was jetzt oder später mit körperlichen Schmerzen verknüpft ist; jeder Thor leidet an einer von diesen Krankheiten, und jeder ist deshalb elend.
(§ 60.) Dazu kommt noch der Tod, der, wie der Fels über dem Tantalus, immer über ihnen hängt, und der Aberglaube, bei dem der davon Erfüllte niemals ruhig werden kann. Dabei denken Solche weder an das vergangene Gute, noch geniessen sie das gegenwärtige, und während sie das Kommende erwarten, werden sie, da hier Gewissheit nicht möglich ist, von Angst und Furcht niedergedrückt und schwer gepeinigt. Erst spät werden sie inne, dass sie vergebens sich um Geld oder Macht oder Reichthum oder Ruhm gemüht haben, wenn sie die Lust nicht erlangen, wegen der sie so viel und so schwer in der brennenden Erwartung, sie zu erreichen, sich geplagt haben.
(§ 61.) Nun schaut auch auf jene kleinlichen und ängstlichen Seelen, die entweder an Allem verzagen oder boshaft, neidisch, schwerfällig, lichtscheu, verläumderisch, scheusslich sind, oder schaut auf Andere, die sinnlichen Ausschweifungen ergeben, oder muthwillig, tollkühn und waghalsig und zugleich unmässig und träge niemals bei einer Meinung beharren. Deshalb hören in dem Leben solcher Leute die Unannehmlichkeiten niemals auf, und deshalb ist kein Thor glücklich und kein Weiser unglücklich. Unsere Gründe für diesen Satz sind weit besser als die der Stoiker; denn diese wollen nur, ich weiss nicht welches Schattenbild für ein Gut anerkennen, was sie mit einem weniger gehaltvollen als blendenden Namen das Rechte nennen; die auf dies Rechte gestützte Tugend soll keiner Lust bedürfen, sondern allein zum glücklichen Leben genügen.
Kap. XIX. (§ 62.) Allerdings kann dies in einem gewissen Sinne behauptet werden, ohne dass wir dem entgegentreten; im Gegentheil, wir stimmen zu, da Epikur das Glück des Weisen immer so beschreibt, dass er seine Begierden in Schranken hält, den Tod nicht scheut, in Betreff der unsterblichen Götter ohne alle Furcht ist, die Wahrheit kennt und nicht ansteht, das Leben zu verlassen, wenn es so besser ist. So ausgerüstet, befindet der Weise sich stets in der Lust; zu jeder Zeit überragt bei ihm die Lust den Schmerz, da er des Vorgegangenen sich dankbar erinnert und das Gegenwärtige in seiner ganzen Fälle und Annehmlichkeit bewusst erfasst; er sorgt sich nicht um das Kommende, sondern geniesst in dessen Erwartung das Gegenwärtige. So ist er von jenen Fehlern, die ich vorhin erwähnte, völlig frei und wird von einer hohen Freude erfüllt, wenn er das Leben des Thoren mit dem seinigen vergleicht. Treffen den Weisen einmal Schmerzen, so sind sie doch nie von einer solchen Stärke, dass er nicht immer mehr haben sollte von dem, was ihn erfreut, als von dem, was ihn ängstigt.
(§ 63.) Vortrefflich ist der Ausspruch Epikur’s, dass das Schicksal dem Weisen nur wenig in den Weg trete; dass die grössten und wichtigsten Angelegenheiten nach seinem Rath und seiner Anweisung besorgt werden, und dass selbst ein unendlich langes Leben nicht mehr Lust gewähren könne, als schon das jetzige beschränkte gewähre. Von Eurer Dialektik meinte er, dass sie kein Mittel zum bessern Leben sei und selbst bei den Erörterungen nichts nütze; auf die Naturwissenschaften legte er aber grosses Gewicht; durch sie könne auch die Kraft der Worte, die Natur der Rede und das Verhältniss der Einstimmung und des Widerstreits erkannt werden, und durch die Erkenntniss der Natur aller Dinge werde man allein von dem Aberglauben befreit, von der Todesfurcht erlöst und nicht irregeführt durch jene Unkenntniss der Dinge, welche oft ausserordentliche Schrecknisse veranlasse. Selbst sittlich besser werde man, wenn man gelernt habe, was die Natur verlangt. Hält man die Erkenntniss der Dinge unverrückt fest und bewahrt man dabei jene Regel, die für die Erkenntniss der Dinge gleichsam vom Himmel gefallen ist und nach der sich alle Urtheile über die Dinge bestimmen, so wird man niemals, durch die Rede eines Andern besiegt, seine Meinung aufzugeben brauchen.
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