E. R. unterbrach den Gedankengang mit der sich gestellten Frage: »Wann hatte Stielhammer den Entschluss gefasst, nicht über Innsbruck und den Brennerpass nach Franzensfeste zurückzukehren, sondern bei Kermaten in Richtung Bad Tölz und Holzkirchen abzuschwenken? Zum Schloss im Grünen , auch auf die Gefahr hin, den Amerikanern in die Hände zu fallen?« War auch er dem Goldrausch verfallen, oder wollte er das Gold für einen Widerstand oder für die Weiterführung des Krieges gegen die Sowjets beschaffen? Diese Fragen konnte er heute nicht eindeutig beantworten. Er musste einen Moment abschalten. Er hatte sich so sehr in die gedachte Situation zurückversetzt, dass er die Müdigkeit Stielhammers zu verspüren glaubte. Mit zwei neuerlichen Schüssen überwand er diese. Sein Gedankenflug in die Erinnerung ging weiter.
Beier schien die Brisanz der Situation richtig einzuschätzen. Seine Nervosität war spürbar. Es begann Tag zu werden. Die Straße war jetzt erstaunlich leer. Sie waren am Walchensee vorbeigefahren, und Stielhammer spielte mit der Idee, die Zugmaschine mit dem Gold im See zu versenken. Er fürchtete, dass Schloss im Grünen und die ihm für ein vorübergehendes Versteck tauglich erscheinende Scheune bei Holzkirchen nicht mehr zu erreichen. Er musste einsehen, nicht überlegt zu haben, wie er die Zugmaschine verschwinden lassen könnte. Er fragte Beier: »Kennen Sie sich hier aus?« Dieser antwortete: »Und ob, wie in meiner Westentasche!«
Sie fuhren nach einer kurvenreichen Strecke am Kochelsee entlang. Beiers Antwort hatte Stielhammer aufgeschreckt, er war jetzt wieder hellwach. Plötzlich, an einer flachen Stelle, riss Beier das Steuer herum und fuhr auf das Wasser zu. Stielhammer, der Ähnliches ahnte, gelang es abzuspringen, bevor das Fahrzeug das Wasser erreichte. Der See schien hier schnell tiefer zu werden, denn die Maschine war in wenigen Sekunden versunken. Stielhammer versicherte sich, dass die Pistole entsichert war, und hielt nach Beier Ausschau. Der war zunächst nicht zu sehen. Nach längerer Zeit sah er Beiers Kopf im See auftauchen. Er schoss sofort. Beier wollte das gegenüberliegende Ufer erreichen. Nach dem vierten Schuss verschwand der Kopf von der Oberfläche des Sees. Stielhammer wartete vergeblich auf ein Auftauchen. Die noch herrschende Dämmerung und ein leichter Dunst über dem See hätten ein weiteres Zielen unmöglich gemacht. Er war sicher, den Mann getroffen zu haben.
E. R. war es unangenehm, sich an diesen Vorfall erinnert zu haben. Obwohl er zu Recht Beier, den Deserteur und Goldräuber, nach Kriegsrecht erschossen hatte. Wären da nicht seine eigenen Absichten im Spiel gewesen. Er gab noch einen Schuss ab und es beruhigte ihn, ins Schwarze getroffen zu haben.
Zwei Tage später konnte sich Sturmbannführer Stielhammer nach einer unangenehm beschwerlichen Fahrt zurückmelden. Per Autostop mit verschiedenen Wehrmachtsfahrzeugen sowie im Beiwagen eines Kradmelders war er in Amstetten angekommen. Er übernahm wieder das Kommando über sein Ersatzbataillon. Die Nachricht vom Tode Hitlers erschütterte ihn nicht. Dieses Kapitel hatte er abgeschlossen. Er hatte noch keine Pläne für die Zukunft. Die Eröffnungen seines Vaters über die Baseler Guthaben beruhigten ihn dagegen sehr. Nicht zu vergessen war auch der Goldschatz im Kochelsee. Wichtig war ihm jetzt noch, lebend davon zu kommen. Er hütete sich davor, mit Franzensfeste Kontakt aufzunehmen. In der augenblicklichen Lage war das ohnehin nicht möglich. Es kam zu keiner Feindberührung mehr. Am siebten Mai erhielt die Division den Befehl, sich nach Westen über die Enns zurückzuziehen, um nicht der für den nächsten Tag vorgesehenen Kapitulation der Roten Armee in die Hände zu fallen. Die Kapitulation und Waffenübergabe an die Amerikaner erfolgte am nächsten Tag bei St. Valentin.
E. R. verspürte heute noch ein Gefühl des Stolzes darüber, dass er, Stielhammer es war, der dank seiner guten Englischkenntnisse amerikanische Offiziere von der Notwendigkeit einer ehrenvollen Übergabe überzeugen konnte. Er befand sich mit drei Kameraden in einer Gruppe hochrangiger amerikanischer Offiziere in lässigen Kampfanzügen, als er den Vorbeimarsch des Regiments abnahm. »Die Augen links«
war das Maximum, was man von diesem zusammengewürfelten, nicht mehr korrekt uniformierten Haufen erwarten konnte. Es war das erste Mal, dass er nicht mit ausgestrecktem Arm salutierte, sondern wie die Amerikaner mit der Hand an der Schirmmütze.
E. R. stand unbewusst auf, nahm Haltung an und salutierte. Er hielt diese von ihm als persönliche Ehrung empfundene Geste als einen der erhebendsten Augenblicke seines Lebens. Er kam nicht darauf, dass dieser Respekt nicht ihm, sondern dem geschlagenen Gegner galt. Eine absurde Situation. Gleichzeitig war es auch, pathetisch gesehen, das gestand E. R. sich ein, das Ende seines ersten Ichs . Es war das Ende des stolzen SS-Sturmbannführers Dr. Franz Stielhammer.
Ein neben ihm stehender amerikanischer Offizier, der seine Rührung bemerkte, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte nur, »O.K. - the war is over!« Aus diesem eigenartigen Hochgefühl, das ihn für einen kurzen Augenblick ergriff, wurde Stielhammer durch den Anruf eines Sergeanten geweckt. Dieser sagte ihm, »Sie kommen jetzt mit mir!«
Die Feindseligkeit, die aus diesen deutsch gesprochenen Worten zu hören war, brachte dem Sturmbannführer, als der er sich noch eben sah, den Ernst der Situation zu Bewusstsein. Die amerikanischen Offiziere, die eben noch kameradschaftlich gewirkt hatten, wandten sich grußlos ab. Sie hatten das ganze Schauspiel nur für sich als Selbstdarstellung genossen und nicht als versöhnliche Geste. Die MPs zweier Soldaten, die den Sergeanten begleiteten, zielten auf Stielhammers Beine und ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Sache ernst zu werden versprach. Man schritt auf einen Bauernhof zu, wo ein erstes Verhör stattfinden sollte. Die schnittige Uniform mit den Auszeichnungen, die ihm bisher viel Selbstvertrauen und Machtgefühl verliehen hatte, war ihm jetzt nicht nur wegen seines Schweißausbruchs unangenehm.
E. R. spürte in diesem Augenblick die mit Übelkeit verbundene Beklemmung seines ersten Ichs . Er konnte sich davon nur mit einem weiteren Schuss aus seiner Pistole befreien. Er fuhr dann in seiner Rückschau fort.
Die kleine Gruppe hatte den Bauernhof erreicht, als etwas Unerwartetes eintrat, das den Amerikanern vorübergehend das Gesetz des Handelns entriss. Die auf den Feldern neben der Straße kampierende, entwaffnete und spärlich bewachte deutsche Heerschar geriet durch den Ruf »die Russen kommen« in Panik. Sie stürmte in Richtung Westen, in Richtung Enns, in Richtung Überleben. Die Flüchtenden riefen, »die liefern uns den Russen aus!« In die Luft abgegebene Warnschüsse der wenigen Bewacher übertönten das Geschrei. Mit dem Mut der Verzweiflung missachteten sie die Gefahr. Eine geschlossene Einheit überrannte die Gruppe um Stielhammer. Die beiden US-Soldaten hatten keine Möglichkeit, von ihren MPs Gebrauch zu machen. Stielhammer ergriff sofort die Chance und rannte ebenfalls los. Zu dicht war die flüchtende Menge für seine Begleiter. Sie konnten ihn weder fassen noch erschießen.
Im Laufen entledigte er sich seiner Schirmmütze und der Uniformjacke. An der Hochwasser führenden Enns angekommen, warf er seine Stiefel und Hose weg und stürzte sich, wie Hunderte neben ihm, in den reißenden Fluss. Nicht alle erreichten das rettende Ufer. Wer konnte es sich in einer solchen Situation leisten Ertrinkenden zu helfen? Es galt, rette sich wer kann!
Sonst nicht empfindsam, schauderte es E. R. bei der Erinnerung an die entsetzlichen Szenen, die sich abgespielt hatten. Er war nur stolz auf seine Heldentat . Er hatte einem Mann, der nicht mehr genug Kraft hatte um sich an Land zu ziehen, die Hand gereicht und ihn herausgezogen. Es war eher eine Reflexbewegung als eine überlegte Hilfeleistung. Diese Situation galt ihm, wenn er dies als notwendig empfand, als Beweis von Stielhammers Opferbereitschaft. E. R. benötigte solche Selbstbetrügereien.
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