Weiße Nächte
Weiße Nächte
Drei Novellen
© 1848 Fjodor M. Dostojewski
Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg
erstmals veröffentlicht 1917
Umschlagbild: Fjodor M. Dostojewski
© Lunata Berlin 2019
Weiße Nächte Weiße Nächte Ein empfindsamer Roman (Aus den Erinnerungen eines Träumers)
Die erste Nacht
Die zweite Nacht
Nastenkas Geschichte
Die dritte Nacht
Die vierte Nacht
Der Morgen
Ein schwaches Herz
Christbaum und Hochzeit
Über den Autor
Weiße Nächte
Ein empfindsamer Roman
(Aus den Erinnerungen eines Träumers)
Es war eine wunderbare Nacht, eine von den Nächten, die wir nur erleben, solange wir jung sind, freundlicher Leser. Der Himmel war so sternenreich, so heiter, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte: können denn unter einem solchen Himmel überhaupt irgendwelche böse oder mürrische Menschen leben? So fragt man nur, wenn man jung ist, freundlicher Leser, wenn man sehr jung ist; doch möge der Herr Ihnen solche Fragen öfter eingeben ... Da ich gerade von allerlei mürrischen und bösen Herrschaften spreche, muß ich an mein musterhaftes Betragen während des ganzen heutigen Tages denken. Schon vom frühen Morgen an quälte mich ein seltsames Unlustgefühl. Es war mir plötzlich, als ob ich, Einsamer, von allen verlassen sei und als ob sich alle von mir lossagten. Nun kann man mich allerdings fragen: wer sind diese »Alle«? Denn ich lebe schon seit acht Jahren in Petersburg und habe es bis heute nicht verstanden, Bekanntschaften zu machen. Wozu brauche ich auch Bekanntschaften? Ich kenne auch so ganz Petersburg; darum hatte ich auch das Gefühl, von allen verlassen zu sein, als ganz Petersburg aufbrach und in die Sommerfrischen zog. Es war mir so schrecklich, allein zu bleiben, und darum irrte ich ganze drei Tage in der Stadt umher, von einem starken Unlustgefühl bedrückt und ohne zu begreifen, was mit mir vorging. Gehe ich auf den Newskij-Prospekt oder in einen Park, oder irre ich an den Kais entlang, – nirgends treffe ich auch nur ein Gesicht von denen, die ich gewohnt war, das ganze Jahr hindurch an einer bestimmten Stelle zu einer bestimmten Stunde zu sehen. Alle die Leute kennen mich natürlich nicht, aber ich kenne sie. Ich kenne sie ganz genau, ich habe ihre Gesichter studiert, – und ich habe mein Vergnügen an ihnen, wenn sie vergnügt, und bin verstimmt, wenn sie mißvergnügt sind. Mit einem alten Männchen, dem ich jeden lieben Tag zu derselben Stunde an der Fontanka zu begegnen pflegte, bin ich beinahe befreundet. Er hat ein so ernstes, nachdenkliches Gesicht, murmelt sich immer etwas in den Bart, schwenkt den linken Arm hin und her und trägt in der rechten Hand einen Knotenstock mit goldenem Knopf. Auch er kennt mich bereits und nimmt an mir großen Anteil. Ich bin überzeugt, daß er sehr verstimmt sein wird, wenn ich zur bestimmten Stunde an einer bestimmten Stelle der Fontanka nicht erscheine. Darum sind wir nahe daran, einander zu grüßen; besonders, wenn wir beide gut aufgelegt sind. Als wir uns neulich ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und uns am dritten Tage wieder trafen, griff ein jeder von uns nach seinem Hute; wir beherrschten uns aber noch zur rechten Zeit, ließen die Hände sinken und gingen mit teilnahmsvollen Blicken aneinander vorbei. – Auch unter den Häusern habe ich Bekannte. Wenn ich eine Straße entlang gehe, so eilt mir jedes Haus gleichsam etwas entgegen, blickt mich mit allen seinen Fenstern an und spricht: »Guten Tag! Wie geht es Ihnen? Mir geht es, Gottlob, recht gut, und im Mai bekomme ich ein neues Stockwerk.« Oder: »Wie ist Ihr Befinden? Was mich betrifft, so komme ich morgen in Reparatur!« Oder: »Ich wäre neulich um ein Haar verbrannt und bin mit ordentlichem Schrecken davongekommen« usw. Ich habe unter ihnen meine Lieblinge und gute Freunde; eines von ihnen hat die Absicht, sich diesen Sommer einer Kur bei einem Architekten zu unterziehen. Ich habe mir vorgenommen, es jeden Tag zu besuchen: daß man es mir, Gott behüte, nicht zu Tode kuriert! ... Doch niemals vergesse ich die Geschichte mit einem reizenden hellrosa Häuschen. Es war ein so liebes steinernes Häuschen, es lächelte mich immer so freundlich an und blickte so stolz auf seine plumpen Nachbarn, daß sich mir jedesmal, wenn ich vorbeiging, das Herz im Leibe freute. Doch wie ich in der vorigen Woche vorbeigehe und meinen Freund anschaue, höre ich plötzlich seinen Jammerschrei: »Man streicht mich gelb an!« Diese Bösewichter! Barbaren! Nichts haben sie verschont: weder die Säulen, noch die Gesimse, und mein Freund wurde gelb wie ein Kanarienvogel. Mir lief vor Erregung beinahe die Galle über, und ich bringe es auch heute noch nicht übers Herz, meinen verunstalteten armen Freund aufzusuchen, den man in der Farbe des Reiches der Mitte angemalt hat.
Nun verstehen Sie wohl, freundlicher Leser, auf welche Weise ich ganz Petersburg kenne.
Wie ich schon sagte, verzehrte ich mich drei Tage in Unruhe, bis ich endlich ihren Grund erriet. Auf der Straße war es mir ganz trüb zumute (dieser fehlt, jener fehlt, und wo ist der und der hingeraten?), und auch zu Hause war es mir unbehaglich. Zwei Abende suchte ich zu erraten: was fehlt mir in meinem Winkel? Warum ist es mir zu Hause so unbehaglich? Und ich betrachtete forschend meine grünen verrauchten Wände, die mit Spinngewebe, welches meine Matrjona mit großem Erfolg züchtete, behangene Decke, musterte alle Möbel, untersuchte jeden Stuhl und suchte dem Übel auf die Spur zu kommen; wenn bei mir nämlich auch nur ein Stuhl anders steht, als er gestern stand, bin ich ganz außer mir; ich schaute auch zum Fenster hinaus, doch alles war umsonst und brachte mir auch nicht die geringste Erleichterung! Ich entschloß mich sogar, Matrjona herbeizurufen und richtete an sie bei dieser Gelegenheit eine väterliche Ermahnung wegen des Spinngewebes und der sonstigen Unordnung; sie sah mich aber nur erstaunt an und ging, ohne auch nur ein Wort zu entgegnen, wieder fort, so daß das Spinngewebe auch heute noch an seinem Platz hängt. Und erst heute früh kam ich endlich der Sache auf den Grund. Ach so! Sie brennen mir ja alle durch und ziehen aufs Land! Verzeihen Sie den trivialen Ausdruck, doch es war mir in diesem Augenblick wirklich nicht um die Schönheit des Stiles zu tun: denn alles, was es in Petersburg gab, war bereits in die Sommerfrische gezogen, oder war gerade im Begriff, es zu tun; denn ich mußte jeden soliden Herrn, der eine Droschke mietete, für einen ehrwürdigen Familienvater halten, der soeben sein Tageswerk erledigt hat und sich mit leichtem Herzen aufs Land, in den Schoß seiner Familie begibt; denn jeder Mensch, der mir begegnete, hatte ein ganz besonderes Aussehen und schien jedem andern Passanten zuzurufen: »Wir sind nur so vorübergehend hier, meine Herren, doch in zwei Stunden ziehen wir aufs Land.« Wenn irgendwo ein Fenster aufging, auf dem vorher zwei feine, zuckerweiße Finger getrommelt hatten, und ein hübsches junges Mädchen den Kopf aus dem Fenster hinaussteckte und einen Straßenhändler, der Blumen feilbot, heranrief, so stellte ich mir gleich vor, daß sie diese Blumen ganz ohne Zweck kaufte, das heißt gar nicht um sich in der dumpfen Stadtwohnung an ihnen und am Frühling zu ergötzen, und daß die ganze Familie sehr bald aufs Land ziehen und die Blumentöpfe mitnehmen würde. Und noch mehr als das: ich hatte auf diesem neuen und besondern Entdeckungsgebiet bereits solche Erfolge gemacht, daß ich nach dem bloßen Aussehen eines Menschen fehlerlos bestimmen konnte, in welcher Sommerfrische er wohnt. Die Bewohner der Stein- und der Apothekerinsel oder der Peterhofer Landstraße zeichnen sich durch anerzogene gute Manieren, elegante Sommerkleidung und schöne Equipagen aus, in denen sie in die Stadt hineinfahren.
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