Der scharlachrote Buchstabe
Der scharlachrote Buchstabe
© Nathaniel Hawthorne 1850
Die Originalausgabe erschien erstmals 1850 unter dem Titel The Scarlet Letter
Aus dem Englischen von Franz Blei
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildmaterial von Efes Kitap / Pixabay
© Lunata Berlin 2019
1. Die Gefängnistür
2. Der Marktplatz
3. Die Erkennung
4. Die Zusammenkunft
5. Esther mit der Nadel
6. Perle
7. Das Haus des Gouverneurs
8. Das Elfenkind und der Geistliche
9. Der Heilkünstler
10. Der Arzt und sein Patient
11. Das Innere eines Herzens
12. Die Vigilie des Geistlichen
13. Ein zweiter Blick auf Esther
14. Esther und der Arzt
15. Esther und Perle
16. Ein Spaziergang im Walde
17. Der Pfarrer und sein Pfarrkind
18. Flut von Sonnenschein
19. Das Kind am Bache
20. Der Geistliche im Labyrinth
21. Feiertag in Neu-England
22. Der Aufzug
23. Die Offenbarung des scharlachroten Buchstabens
24. Schluß
Eine gedrängte Menge von bärtigen Männern, in dunkelfarbigen Kleidern und grauen, hohen, spitz zulaufenden Hüten, wie von mit Kapuzen bedeckten oder barhäuptigen Frauen hatte sich vor einem Holzhause versammelt, dessen Tür aus schweren, starken Eichenbohlen mit eisernen Stacheln besetzt war.
Die Begründer einer neuen Kolonie haben, welches Utopia menschlicher Tugend und Glückseligkeit sie immer auch ursprünglich herbeiführen wollten, doch ohne Ausnahme unter ihren ersten praktischen Bedürfnissen stets gefunden, einen Teil des jungfräulichen Bodens zum Gottesacker und einen andern zum Gefängnis zu bestimmen. Man kann dieser Regel gemäß mit Sicherheit annehmen, daß die Begründer von Boston das erste Gefängnis irgendwo in der Nähe von Cornhill ebenso rechtzeitig gebaut haben, wie sie die Grenzen ihres ersten Begräbnisplatzes auf Isaak Johnsons Feld absteckten, dessen Grab später der Mittelpunkt und Kern aller Begräbnisse auf dem alten Kirchhof von King's Chapel wurde. Soviel steht fest: fünfzehn bis zwanzig Jahre nach der Anlage der Stadt war das hölzerne Gefängnisgebäude bereits mit Wetterflecken und andern Zeichen des Alters überdeckt, die seiner düstern Front ein noch finstereres Aussehen gaben. Der Rost auf dem schweren Eisenwerk seiner Eichentür sah antiker als alles andere in der Neuen Welt aus; gleich allem, was sich auf das Verbrechen bezieht, schien es nie eine Jugendzeit besessen zu haben. Vor diesem häßlichen Gebäude und zwischen ihm und dem Rädergleise der Straße lag ein Rasenfleck, stärk mit Kletten, Huflattich, Stechapfel und ähnlichem häßlichen Unkraut überwachsen, das offenbar etwas Verwandtes in dem Boden fand, der so früh schon die schwarze Blume der Zivilisation, ein Gefängnis, getragen hatte. Aber auf der einen Seite des Portals, fast an der Schwelle, rankte ein wilder Rosenbusch, der jetzt im Juni mit seinen zarten Juwelen bedeckt war, dem Gefangenen, ging er hinein, und dem verurteilten Verbrecher, kam er heraus, Duft und vergängliche Schönheit zu bieten und ihm zu beweisen, daß das tiefe Herz der Natur ihn bemitleiden und freundlich gegen ihn sein könne.
Dieser Rosenbusch hat sich durch einen sonderbaren Zufall in der Geschichte lebendig erhalten; ob er aber die dunkle alte Wildnis so lange nach dem Fall der riesigen Tannen und Eichen, die ihn ursprünglich beschatteten, überlebt, oder ob er, was zu glauben guter Grund vorhanden ist, unter den Schritten der begnadeten Anna Hutchinson aufgesprosst war, als sie in die Gefängnistür trat: dies zu bestimmen, wollen wir nicht auf uns nehmen. Da wir ihn so hart an der Schwelle unserer Erzählung finden, die jetzt aus jener unglückverkündenden Tür hervortreten soll, konnten wir kaum vermeiden, eine von seinen Blüten zu pflücken und dem Leser darzubieten. Hoffen wir, daß sie als Symbol einer duftigen moralischen Blüte, die sich vielleicht unterwegs findet, diene, oder gegen den düstern Schluß einer Geschichte menschlicher Schwäche und Schmerzen freundlich sich abhebe.
Der Rasenfleck vor dem Gefängnis im Kerkergässchen war also an einem Sommermorgen vor nicht weniger als zwei Jahrhunderten mit einer ziemlich großen Anzahl von Einwohnern Bostons bedeckt, deren Augen aufmerksam auf die eisenbeschlagene Eichentür gerichtet waren. Bei jedem andern Volke oder zu jeder späteren Periode der Geschichte von Neuengland würde die düstere Starrheit, welche die bärtigen Physiognomien dieser guten Leute versteinerte, verkündet haben, daß irgend etwas Entsetzliches bevorstehe: sie hätte nichts Geringeres als die erwartete Hinrichtung eines bekannten Verbrechers bezeichnen können, bei dem der Spruch eines Tribunals nur den der öffentlichen Meinung bestätigt hätte. Aber bei der Strenge des Charakters der frühen Puritaner war ein Schluß dieser Art nicht so zweifellos zu ziehen. Es konnte sein, daß ein träger Dienstmann oder ein ungehorsames Kind, das seine Eltern der Zivilbehörde übergeben hatten, am Schandpfahl gezüchtigt werden sollte. Es konnte sein, daß man einen Antinomisten, einen Quäker oder andern ungläubigen Sektierer aus der Stadt peitschen oder einen faulen indianischen Landstreicher, den das Feuerwasser des weißen Mannes zur Verübung von Straßenunfug getrieben, mit Striemen in den Schatten des Waldes hinausjagen wollte. Es konnte sogar sein, daß eine Hexe, wie die alte Frau Hibbins, die bösartige Witwe einer Magistratsperson, am Galgen sterben sollte. In jedem dieser Fälle wäre ziemlich die gleiche Feierlichkeit auf den Gesichtern der Zuschauer zu bemerken gewesen, wie solches einem Volke ziemte, bei welchem Religion und Gesetz fast identisch und in dessen Charakter beide so vollkommen verschmolzen waren, daß die mildesten Handlungen der öffentlichen Disziplin ihm ebenso ehrwürdig und schauerlich erschienen wie die strengsten. Die Teilnahme, welche eine Gesetzesübertretung von solchen um die Schandbühne versammelten Zuschauern erwarten konnte, war in der Tat nur gering und kalt. Andererseits konnte eine Strafe, mit welcher in unserer Zeit unausbleiblich ein hoher Grad von spöttischer Infamie und Lächerlichkeit verbunden sein würde, damals von einer fast ebenso strengen Würde wie die Todesstrafe selbst begleitet sein.
Es war an dem Sommermorgen, wo unsere Geschichte beginnt, ein bemerkenswerter Umstand, daß die Frauen, von denen sich mehrere unter der Menge befanden, ein besonderes Interesse an der Bestrafung, welche hier bevorstand, zu nehmen schienen. Die Zeit besaß noch nicht so viel Gefühlsverfeinerung, daß eine Empfindung des Unpassenden die Trägerinnen von Röcken und Miedern abgehalten hätte, auf die öffentlichen Straßen hinauszutreten und ihre nicht unsubstantiellen Personen, wenn Anlass dazu vorhanden, bei einer Exekution in die dem Schafott nächsten Reihen der Zuschauer hineinzuzwängen.
Jene Frauen und Jungfrauen von altenglischer Geburt und Erziehung waren moralisch wie physisch aus gröberen Fasern gemacht als ihre schönen, durch eine Reihe von sechs bis sieben Generationen von ihnen getrennten Nachkommen. Denn in dieser Kette der Geschlechtsfolge hat jede Mutter ihrem Kinde eine schwächere Blüte, eine bleichere, kürzer dauernde Schönheit und eine zartere physische Konstitution, wo nicht einen Charakter von geringerer Kraft und Solidität wie ihren eigenen, vermacht. Die Frauen, welche jetzt um die Gefängnistür standen, waren weniger als ein halbes Jahrhundert von der Zeit entfernt, wo die männliche Elisabeth die nicht ganz unpassende Vertreterin ihres Geschlechts gewesen war. Sie waren ihre Landsmänninnen, und das Rindfleisch und das Bier ihrer Heimat waren zusammen mit einer um keinen Deut feineren moralischen Diät zu gutem Teil in ihre Zusammensetzung eingegangen. Die helle Morgensonne schien daher auf breite Schultern und volle Busen und runde, tiefrote Wangen, die auf der fernen Insel zur Reife gediehen und in der Atmosphäre von Neuengland kaum erst bleicher oder schmäler geworden waren. Überdies war jenen Matronen, was die meisten von ihnen zu sein schienen, eine Dreistigkeit und Geradheit der Rede eigen, welche uns sowohl in Bezug auf ihre Fassung wie auf das Volumen ihres Tones in Schrecken setzen würde.
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