Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem dastehenden Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber ...
»Der Gedanke«, fuhr er fort zu lesen, »daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte; aber völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke meiner erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskis, ›meines Nächsten‹, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese Überzeugung habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen, warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich ›angefangen‹ zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.«
Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.
Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben anderer Menschen zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja zu Zeiten, wo ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu eine Klatschschwester geworden zu sein schien. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). Ich kannte einen armen Kerl, von dem man mir später erzählte, er sei Hungers gestorben, und ich erinnere mich, daß mich dies ganz außer mir brachte: hätte man diesen armen Menschen ins Leben zurückrufen können, so hätte ich ihn, glaube ich, hinrichten lassen. Es ging mir manchmal ganze Wochen lang besser, und ich konnte auf die Straße gehen; aber was ich auf der Straße sah, versetzte mich in eine so ärgerliche Stimmung, daß ich ganze Tage lang absichtlich im verschlossenen Zimmer saß, obgleich ich wie alle Leute hätte ausgehen können. Ich konnte dieses hin und her rennende, hastende, immer sorgenvolle, mürrische, aufgeregte Volk nicht vertragen, das auf dem Trottoir um mich herumwimmelte. Wozu ihre lebenslängliche Traurigkeit, ihre lebenslängliche Unruhe und Geschäftigkeit, ihre lebenslängliche mürrische Bosheit (denn sie sind boshaft, boshaft, boshaft). Wer ist schuld daran, daß sie unglücklich sind und nicht zu leben verstehen, obwohl jeder von ihnen sechzig Lebensjahre vor sich hat? Warum hat Sarnizyn es dahin kommen lassen, daß er Hungers starb, obgleich er sechzig Jahre vor sich hatte? Und jeder weist auf seine abgetragene Kleidung hin und auf seine zerarbeiteten Hände und erbost sich und schreit: ›Wir arbeiten wie die Ochsen und quälen uns ab; aber wir sind hungrig wie die Hunde und sind arm! Andere arbeiten nicht und quälen sich nicht ab und sind reich!‹ (Das ist der ewige Refrain!) Und mit ihnen zugleich läuft so ein unglücklicher Jammermensch ›aus besserer Familie‹ herum und rackert sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend ab; ich denke an Iwan Fomitsch Surikow, der in unserm Haus über uns wohnt; er hat immer zerrissene Ellbogen und durchgeriebene Knöpfe und macht für allerlei Leute Gänge und übernimmt Aufträge, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Läßt man sich mit ihm in ein Gespräch ein, dann bekommt man zu hören: ›Ich bin arm, geradezu ein Bettler; meine Frau ist mir gestorben; ich hatte kein Geld, um ihr Medizin zu kaufen; und im Winter ist mir ein kleines Kind erfroren; meine älteste Tochter lebt als Mätresse ...‹ So jammert und weint er fortwährend! Oh, ich habe kein Mitleid, nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen; ich habe jetzt keines und habe es auch früher nicht gehabt; das sage ich mit Stolz! Warum ist er denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperials und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift?
Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig; jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern; aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und habe tatsächlich nachts vor Wut an meinem Kopfkissen genagt und meine Bettdecke zerrissen. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich zeigen wollen ...
Was hätte ich zeigen wollen?
Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin, und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.
Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem soll ich sie wiedererzählen? Ich habe mich damals an ihnen belustigt, als ich klar sah, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; es fiel mir zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax werde gelangt sein, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe unserer Magd Matrona verboten, es aufzuheben.
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