Als das Mädchen meine Antwort vernommen hatte, verließ sie unhörbar das Zimmer und schloß behutsam hinter sich die Tür.
Einen Augenblick darauf lief ich ihr nach; ich ärgerte mich sehr darüber, daß ich sie hatte fortgehen lassen. Sie war so leise hinausgegangen, daß ich nicht hatte hören können, wie sie die nach der Treppe führende Flurtür öffnete. ›Die Treppe kann sie noch nicht hinunter sein‹, dachte ich und blieb stehen, um zu horchen. Aber alles war still, und es waren keine Schritte zu hören. Es klappte nur irgendwo in einem tieferen Stockwerk eine Tür; dann wurde wieder alles still.
Eilig begann ich die Treppe hinunterzusteigen. Die Treppe von meiner Wohnung im fünften Stock nach dem vierten Stock war eine Wendeltreppe; vom vierten Stock an begann eine gerade Treppe. Es war eine jener unsauberen, immer dunklen Treppen, wie man sie gewöhnlich in Mietskasernen mit kleinen Wohnungen findet. In diesem Augenblick war es auf ihr schon völlig dunkel. Tastend stieg ich nach dem vierten Stock hinunter; hier blieb ich stehen und hatte auf einmal ein Gefühl, als ob ich angestoßen und darauf aufmerksam gemacht würde, daß hier jemand auf dem Flur war und sich vor mir versteckte. Ich begann mit den Händen umherzutasten; ganz in einer Ecke stand das Mädchen mit dem Gesicht zur Wand und weinte still und lautlos.
»Höre, mein Kind, warum fürchtest du dich?« sagte ich. »Ich habe dich so erschreckt; es tut mir leid. Dein Großvater hat, als er starb, noch von dir gesprochen; das waren seine letzten Worte . . . Ich habe auch noch Bücher von ihm; wahrscheinlich gehören sie dir. Wie heißt du denn? Wo wohnst du? Er sagte, in der Sechsten Linie . . .«
Aber ich konnte nicht zu Ende sprechen. Sie schrie erschrocken auf, anscheinend darüber, daß ich wußte, wo sie wohnte, stieß mich mit ihren dünnen, mageren Armen zurück und lief die Treppe hinunter. Ich eilte ihr nach; ich konnte noch ihre Schritte unten hören. Auf einmal hörten sie auf . . . Als ich auf die Straße hinausstürzte, war das Mädchen nicht da. Ich lief bis zum Wosnessenskiprospekt und sah, daß all mein Suchen vergeblich war: sie war verschwunden. »Wahrscheinlich hat sie sich schon beim Hinuntersteigen von der Treppe irgendwo vor mir versteckt«, dachte ich.
Aber kaum hatte ich das nasse, schmutzige Trottoir des Prospektes betreten, als ich mit einem Passanten zusammenstieß, der, anscheinend in tiefen Gedanken, mit gesenktem Kopf eilig dahinging. Zu meinem größten Erstaunen erkannte ich den alten Ichmenew. Dies war für mich ein Abend der unerwarteten Begegnungen. Ich wußte, daß der alte Mann vor drei Tagen ernstlich erkrankt war, und nun traf ich ihn plötzlich bei solchem feuchten Wetter auf der Straße. Zudem war er auch früher abends nie ausgegangen, und seit Natascha das Haus verlassen hatte, das heißt seit beinah einem halben Jahr, war er ein richtiger Stubenhocker geworden. Er freute sich außerordentlich über das Zusammentreffen mit mir, wie jemand, der endlich einen Freund gefunden hat, mit dem er sich aussprechen kann, ergriff meine Hand, drückte sie kräftig und zog mich, ohne zu fragen, wohin ich ginge, mit sich fort. Er war über etwas in Aufregung, hastete und redete abgebrochen. »Wo mag er nur gewesen sein?« dachte ich bei mir. Ihn danach zu fragen wäre unnütz gewesen; er war furchtbar mißtrauisch geworden und witterte manchmal in der harmlosesten Frage oder Bemerkung eine Kränkung, eine beleidigende Anspielung.
Ich blickte ihn von der Seite an: sein Gesicht sah krankhaft aus; er war in der letzten Zeit sehr abgemagert; rasiert hatte er sich seit einer Woche nicht. Sein ganz ergrautes Haar hing unordentlich unter dem verbeulten Hut hervor und lag in langen Strähnen auf dem Kragen seines alten, abgetragenen Mantels. Ich hatte schon früher bemerkt, daß er manchmal wie geistesabwesend war; er vergaß zum Beispiel, daß er nicht allein im Zimmer war, redete mit sich selbst und gestikulierte mit den Händen. Es war peinlich, ihn anzusehen.
»Nun, wie geht's, Wanja, wie geht's?« sagte er. »Wo kommst du her? Ich bin ausgewesen, lieber Freund, in Geschäften. Bist du gesund?«
»Sind Sie selbst gesund?« antwortete ich. »Sie waren ja noch vor kurzem krank, und da gehen Sie aus?«
Der Alte antwortete nicht, als hätte er mich gar nicht verstanden.
»Wie befindet sich Anna Andrejewna?«
»Sie ist gesund, sie ist gesund . . . Übrigens, ein bißchen kränklich ist sie auch. Sie ist so trübsinnig geworden . . . sie hat auch von dir gesprochen, warum du gar nicht zu uns kämest. Aber du warst wohl jetzt gerade auf dem Weg zu uns, Wanja? Oder nicht? Ich habe dich vielleicht gestört und halte dich von etwas ab?« fragte er plötzlich, mich mißtrauisch und argwöhnisch anblickend.
Der alte Mann war dermaßen empfindlich und reizbar geworden, daß, wenn ich ihm jetzt geantwortet hätte, ich sei nicht auf dem Weg zu ihnen, er sich unfehlbar beleidigt gefühlt und sich kalt von mir getrennt hätte. Ich beeilte mich, bejahend zu antworten, daß ich gerade vorhätte, Anna Andrejewna zu besuchen, obwohl ich wußte, daß ich dann bei Natascha zu spät kommen und sie vielleicht überhaupt nicht mehr antreffen würde.
»Nun, das ist ja schön«, erwiderte der Alte, durch meine Antwort beruhigt. »Das ist ja schön . . .«
Auf einmal verstummte er und versank in Gedanken, als ob er noch etwas unausgesprochen gelassen hätte.
»Ja, das ist schön!« wiederholte er mechanisch nach etwa fünf Minuten, wie wenn er nach seiner tiefen Versunkenheit wieder zu sich käme. »Hm! . . . Siehst du, Wanja, wir haben dich immer wie einen eigenen Sohn gehalten; Gott hat mich und Anna Andrejewna nicht mit einem Sohn gesegnet . . . da hat er uns dich gesandt, ich habe es immer so aufgefaßt. Und meine Frau auch . . . ja! Und du hast dich gegen uns immer respektvoll und zärtlich benommen wie ein leiblicher, dankbarer Sohn. Möge dich Gott dafür segnen, Wanja, so wie wir beiden alten Leute dich segnen und lieben . . . ja!«
Seine Stimme fing an zu zittern, er machte eine kleine Pause.
»Ja . . . nun aber, wie geht es dir? Du bist doch nicht krank gewesen? Weil du so lange nicht bei uns warst.«
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Smith, sagte zu meiner Entschuldigung, diese Angelegenheit habe mich am Kommen gehindert; außerdem sei ich wirklich beinah krank gewesen und hätte wegen all dieser Abhaltungen den weiten Weg nach der Wassili-Insel (da wohnten sie damals) nicht machen können. Ich hätte mich beinah versprochen und gesagt, daß ich trotzdem auch in dieser Zeit die Möglichkeit gefunden hatte, Natascha zu besuchen; aber ich unterdrückte dies noch rechtzeitig.
Die Geschichte von Smith interessierte den alten Mann sehr. Er wurde aufmerksamer. Als er hörte, daß meine neue Wohnung feucht und noch schlechter als die frühere sei und sechs Rubel monatlich koste, wurde er ordentlich hitzig. Er war überhaupt in der letzten Zeit sehr heftig und ungeduldig geworden. Nur Anna Andrejewna verstand es noch, in solchen Augenblicken mit ihm zurechtzukommen, und auch ihr gelang es nicht immer.
»Hm! . . . Das kommt alles von deiner Schriftstellerei, Wanja!« rief er fast zornig. »Die hat dich in die Dachstube gebracht und wird dich noch auf den Kirchhof bringen! Ich habe es dir schon damals gesagt und dich gewarnt! . . . Was macht denn B.? Schreibt er immer noch Kritiken?«
»Der ist ja schon gestorben, an der Schwindsucht. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon gesagt.«
»Gestorben, hm! . . . gestorben! Anders konnte es auch nicht kommen. Hat er denn seiner Frau und seinen Kindern etwas hinterlassen? Du sagtest ja wohl, er sei verheiratet, nicht? . . . Wozu solche Leute nur heiraten!«
»Nein, er hat nichts hinterlassen«, antwortete ich.
»Na, da haben wir's!« rief er mit solcher Erregung, wie wenn die Sache ihn als nahen Verwandten anginge, wie wenn der verstorbene B. sein leiblicher Bruder gewesen wäre. »Nichts! Gar nichts! Weißt du, Wanja, ich habe das schon vorhergeahnt, daß es so mit ihm enden werde, schon damals, du erinnerst dich, als du ihn mir so lobtest. Das spricht sich so leicht hin: er hat nichts hinterlassen! Hm! . . . Ruhm hat er sich ja erworben, meinetwegen sogar unsterblichen Ruhm; aber vom Ruhm wird man nicht satt. Und auch was dich betrifft, Wanjuscha, so habe ich schon damals alles vorausgesehen; ich habe dich gelobt, aber im stillen habe ich alles vorausgesehen. Also B. ist gestorben? Wie sollte einer da auch nicht sterben? Ein unerfreuliches Dasein und . . . ein unerfreulicher Wohnort; da sieh!«
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