Oliver Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse
Empörung, Revolte, Emotion
Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies
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Umschlagabbildung: Käthe Kollwitz, Losbruch
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DOI: 10.24053/9783823394921
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ISSN 1861-3934
ISBN 978-3-8233-9492-1 (Print)
ISBN 978-3-8233-0298-8 (ePub)
Revolte, Empörung, Emotion. Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies
Einführung1
Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse
1 Revolte, Empörung und Emotion in der neueren geisteswissenschaftlichen Forschung
Seit einigen Jahren kommt die geisteswissenschaftliche Emotionsforschung wieder in Schwung: Neben den traditionellen, immer noch aktuellen Herangehensweisen der Kulturgeschichte, der Anthropologie, der praktischen Philosophie, der Psychologie, der literarischen Rezeptionstheorie und der Rhetorik haben sich neue Herangehensweisen entwickelt, die einerseits das Erbe der poststrukturalistischen Kulturforschung antreten, und sich andererseits auf die neuen Erkenntnisse der kognitiven Psychologie berufen, die unser Verständnis von Emotionen verändern. Für Brian Massumi (1995) ist Affektforschung die Chiffre zu einer neuen allgemeinen Theorie der Semiotik und der gesellschaftlichen Kommunikation überhaupt. Wie umstritten die Parole der „emotionalen Wende“ der Geisteswissenschaften auch ist (s. Leys 2011 für eine grundlegende Kritik), sie hat dennoch zur Entstehung einer neuen Reihe von Forschungen über Gefühle und Emotionen wesentlich beigetragen (für einen Überblick, s. etwa Greco & Stenner 2008 oder Lemmings & Brooks 2014). Ob in der Sprachwissenschaft, in der Literaturwissenschaft oder auch in der kulturellen, intellektuellen, politischen und sozialen Geschichte: Das erneute Interesse für Emotionen stellt die Forschung vor die Wahl, die neuen Ansätze mit traditionellen Paradigmen des Einzelfachs zu kombinieren, oder sich von diesen traditionellen disziplinären Mustern abzugrenzen.
Die intrinsisch interdisziplinäre Herangehensweise der Emotion Studies stößt zudem auf die bestehende disziplinäre Vielfalt der kulturwissenschaftlichen und neuphilologischen Ansätze im Bereich der Germanistik – ob man diese als Einzelbereich der Areal Studies betrachtet, oder auf dem Fokus auf diskursives bzw. philologisches Material besteht. Die mutmaßliche „emotionale Wende“ gestaltet sich also unterschiedlich in der Germanistik, als in einem Einzelfach wie etwa Ethik oder der vergleichenden Literaturwissenschaft. Dies gilt insbesondere für die nationalen Traditionen der Germanistik, die sich seit Längerem mit geschichtlichen, soziologischen und anthropologischen Fragestellungen auseinandersetzen. Dazu zählt die französische Germanistik.
Auf Betreiben des französischen Verbandes für Hochschulgermanistik ( Association des Germanistes de l’Enseignement Supérieur , AGES) wurden 2019 die Germanistinnen und Germanisten weltweit dazu eingeladen, sich mit den Herausforderungen der Emotionsforschung auseinanderzusetzen. In freundlicher internationaler Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes und besonders mit Prof. Dr. Nine Miedema war ursprünglich eine internationale und interdisziplinäre Tagung für 2020 in Saarbrücken geplant. Die – emotionsreichen – coronabedingten Wechselfälle der folgenden Monate haben es anders entschieden. Es wurde dennoch beschlossen, die Weichen für weitere Gespräche und Forschungen zu stellen, indem eine Auswahl aus den geplanten Beiträgen herausgebracht und veröffentlicht werden sollten.
Um trotz der Vielfalt der untersuchten Emotionen einen Leitfaden zu behalten, wird ein bestimmter Emotionskomplex besonders berücksichtigt: Zorn und Empörung. Empörung wird hier als individueller und als kollektiver Affekt definiert. Diese Emotion ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann. Empörung und Revolte wurden schon von den traditionellen Herangehensweisen der Emotionsforschung gründlich behandelt und eignen sich daher für den gewünschten Dialog gut. Das Spannungsverhältnis zwischen Behauptung und Zerstörung (bzw. Positivität und Negativität) bei Empörung und Revolte gibt zumindest Anlass zur Besprechung von zwei Grundthemen der Affekttheorie Massumi’scher Prägung: den komplexen Verbindungen zwischen persönlichen Werturteilen und emotionaler Intensität, und dem Verhältnis zwischen Emotionen und der „Virtualität“, d.h. der Menge aufkeimender, emergierender und unvollkommener Entwicklungen, durch welche die „Futurität“ in der Gegenwart verankert aber auch teilweise gefangen ist.
Gesammelt werden Beiträge aus historischer, geistesgeschichtlicher, literarischer und linguistischer Perspektive zu den Phänomenen Revolte – Empörung – Emotion im deutschsprachigen Raum. Zu den rekurrierenden Motiven der Beiträge gehören die Sozialgeschichte der Empörung, die kulturellen und diskursiven Aspekte von Revolte, die literarische Behandlung von Revolte, Empörung und benachbarten Emotionen sowie die Rhetorik der Empörung und die Rolle von Empörung und Emotionen in der Sprachtätigkeit selber.
2 Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft
Diskursiv lassen sich Emotionen, und vor allem Empörung, als Haltungen der Sprecher:innen bezüglich vorgestellter Sachverhalte fassen. In diesem Sammelband wird aber auch Empörung als Ereignis begriffen, das über eine auszudrückende innerliche Haltung hinausgeht: Empörung kann auch dieser Ausdruck selbst sein, oder die Reaktion darauf. Emotionen sind daher ein wichtiger theoretischer Gegenstand für die Sprechakttheorie. Welche Regelmäßigkeiten treten in diesen Interaktionen zutage, die die Grice’schen Kooperationsmaximen (vor allem die „Modalitätsmaxime“) oft missachten? Was ist das Zusammenspiel zwischen Emotionalität und illokutiver Kraft? Die Grundsprechakte, die von Searle (1969) definiert worden sind, beinhalten entweder keine intrinsischen emotionalen Komponenten (Aussage, Frage, Befehl), oder werden sehr allgemein als emotional definiert (Exklamation, in vielen Hinsichten ein Stiefkind der klassischen Sprechakttheorie, s. Danon-Boileau & Morel 1995, Krause & Ruge 2004, d’Avis 2016, Larrory-Wunder 2016). Die neuere Sprechaktforschung liefert aber ein differenzierteres Bild, die auf eine feinkörnigere Beschreibung der emotionalen Merkmale verschiedener Illokutionssorten hoffen lässt, auch in formaler Hinsicht: Mehrere formale Ansätze versuchen jetzt, die Semantik und Pragmatik der Empörung und der Emotion modellieren (Potts 2007, Gutzmann 2015). Wahrheits- und gebrauchskonditionale Semantik werden miteinander artikuliert, um die Glückensbedingungen ( felicity conditions ) emotionaler und insbesondere empörerischer Sprechakte zu bestimmen. Eine wichtige Frage dabei ist, wie sich die emotionalen, empörerischen Illokutionen in die Landschaft der Sprechakte verorten lassen. Gibt es eigene emotionale Sprechakte, oder soll man eher Emotion, etwa Empörung, als eine zusätzliche illokutionäre bzw. expressive Verfärbung basaler Sprechaktsorten verstehen? Oder soll der Expressivitätsbegriff kritischer betrachtet werden (Blakemore 2015)?
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