In seinen Kleidern und Taschen fand sich nicht der geringste Gegenstand. Aber bei der Untersuchung derselben fiel mir auf, daß seine linke Hand verbunden war.
»Was ist das?« fragte ich den Scheik. »Weißt du vielleicht, weshalb er den Verband angelegt hat?«
»Natürlich weiß ich es. Er ist verwundet worden von einer Kugel. Als wir eure Reiter umzingelten, geschah dies so schnell und vollständig, und der Kolarasi dachte so wenig an eine Verteidigung, daß von unserer Seite nur ein einziger Schuß gefallen ist. Und die Kugel hat den Fremden getroffen, der gar nicht unser Feind war, sondern nur hierher gelockt worden ist. Sie hat ihm das vordere Glied des linken Daumens halb weggerissen, sodaß es vollends mit dem Messer entfernt werden mußte.«
»Ah? Das muß ich sehen.«
Ich wickelte die Binde, welche aus dem Stück eines Kopftuches bestand, ab und überzeugte mich, daß
allerdings die Spitze des Daumens fehlte. Da trat Winnetou näher heran, besah sich die Wunde und sagte:
»Mein Bruder mag nun das Herz entblößen!«
Ich that es. Ja, gerade da, wo das Herz lag, war die Revolverkugel eingedrungen; sie hatte schnelle und auch saubere Arbeit gemacht, denn die Wunde und ihre Umgebung war so rein, als ob sie abgewaschen worden wäre. Auch an der Kleidung war kein Blutflecken zu sehen.
Winnetou legte den Finger auf die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war, drückte einigemal darauf und meinte dann:
»Wird mir mein Bruder Scharlieh erlauben, die Kugel und ihren Weg zu suchen?« »Natürlich! Komm her!«
Ich machte ihm an der Leiche Platz; er zog sein Messer und begann die traurige Arbeit, vor welcher ich mich zwar gescheut, die ich aber doch auch vorgenommen hätte. Nämlich ich wußte, was er dachte; ich hatte denselben Gedanken wie er. Es sollte Selbstmord vorliegen; dieser hätte nur mit der Rechten vorgenommen werden können, da es dem jetzt Toten unmöglich gewesen wäre, mit der verletzten und verbundenen linken Hand zu schießen.
Es kam also darauf an, welcher Richtung die Kugel im Körper gefolgt war, woraus sich dann schließen ließ, ob ein Schuß mit der rechten Hand als Thatsache angenommen werden könne.
Winnetou war ein erfahrener und außerordentlich geschickter Chirurg. Er operierte mit seinem langen, starken und scheinbar ungefügen Bowiemesser so zart, so vorsichtig, wie ein studierter Arzt es mit den feinsten Instrumenten nicht besser hätte machen können. Das ging freilich langsam; erst nach einer halben Stunde kannten wir den Weg, den die Kugel eingeschlagen hatte; sie saß hinten an der letzten rechten wahren Rippe. Der etwas abwärts gehende Schuß konnte also unmöglich mit der rechten Hand abgegeben worden sein. Der Apatsche richtete sich auf, hielt uns seine Hand mit der Kugel entgegen und sagte nur das eine Wort:
»Mord!«
»Well!« stimmte Emery bei. »Hier liegt kein Selbstmord vor. Eine solche Richtung nimmt die Kugel nur, wenn mit der linken Hand geschossen wird, und mit dieser hat Small Hunter unmöglich schießen können.«
»Also ist Melton der Mörder!« fügte ich hinzu. »Das habe ich sogleich gedacht, und ihr seid wohl alle derselben Meinung gewesen. Es ist eine traurige Arbeit, der wir uns hier zu unterziehen haben. Es schaudert mich; aber wir dürfen uns ihr nicht entziehen. Es muß unbedingt festgestellt werden, wer der Tote ist. Ziehen wir ihm die Schuhe aus; wir müssen die Zehen sehen!«
Dies geschah. Ja, er hatte an jedem Fuße sechs, anstatt einer kleinen deren zwei, die beide ganz richtig ausgebildet waren, nur daß der zweiten der Nagel fehlte. Sonst fanden wir am ganzen Körper nichts, kein Mal, kein sonstiges Zeichen, welches zur Feststellung der Persönlichkeit hätte dienen können.
Damit hatten wir unserer Pflicht nach ihrer, sozusagen kriminellen Seite hin genügt; es galt nun, den Toten zu begraben, was mit größerer Sorgfalt geschah, als Melton es gethan hatte. Wir gaben den aufgeschichteten Steinen die Gestalt eines Kreuzes und beteten dann leise für das ewige Heil des Toten, der so ohne alle Vorbereitung aus dem 1 eben geschieden war.
Dann aber drang der Scheik sofort darauf, daß wir uns reinigen mußten. Es geschah dies in der Weise, daß wir uns Hände und Gesicht mit Sand wuschen, wobei er mit leiser Stimme einige kurze Gebete murmelte.
Dann sagte er:
»Nun seid ihr wieder rein, und niemand braucht sich zu scheuen, euch zu berühren. Kehren wir jetzt nach dem Lager zurück!«
»Warte noch!« bat ich. »Der Ort und das Grab liegt auf dem Gebiete, welches den Uled Ayars gehört, deren oberster Scheik du bist. Kannst du uns versprechen, daß die Stätte von euch geachtet und nicht beschädigt wird?«
»Ich schwöre es euch bei Allah und dem Propheten zu! Doch warum bist du so besorgt um das Grab eines Mannes, der für dich ein Fremder gewesen ist?«
»Weil es möglich ist, daß es später noch einmal geöffnet werden muß. Ihr vergegenwärtigt euch doch alles, was ihr hier gesehen habt?«
»Ja.«
»Wir müssen eine Schrift darüber aufsetzen, welche drüben in Amerika gerichtliche Geltung hat. Du als Scheik des Stammes, welchem der Ort gehört, mußt sie unterschreiben, wir als Zeugen auch, und wenn der Herr der Heerscharen seinen Namen daruntersetzt, so ist alles geschehen, was unter den hiesigen und gegenwärtigen Verhältnissen geschehen kann. Für jetzt aber muß ich dich, Mubir Ben Safa, bitten, mir eine wichtige Frage zu beantworten: Wo sind die Sachen, welche diesem Toten gehörten?«
»Sein Pferd befindet sich mit bei unsern Pferden. Seine Waffen hatte der Kolarasi zu sich genommen; aber als er selbst gebunden in seinem Zelte lag, habe ich sie mir holen lassen. Ich werde sie euch zeigen, und ihr könnt sie haben.«
»Und das sonstige Eigentum? Der Tote hat doch jedenfalls noch viele andere Gegenstände besessen, wie Ringe, eine Uhr, verschiedene Dinge, welche zu einer Reise hierher notwendig waren, vor allen Dingen seine Beglaubigungen. An der Leiche aber haben wir nichts von alledem gefunden. Natürlich hat der Kolarasi ihm die Sachen auch alle abgenommen?«
»Das weiß ich nicht!«
»Nicht? fragte ich erstaunt, ja fast betroffen. »Du mußt es doch wissen. Du hast ihm doch jedenfalls alles abgenommen, was er bei sich hatte?«
»Seine Waffen habe ich, denn er ist jetzt gefangen und darf sie also nicht besitzen, aber was sich in seinen Taschen befand, ist ihm geblieben. Ich habe streng verboten, ihm irgend etwas davon zu nehmen.«
»Warum?«
»Infolge der Uebereinkunft, welche ich mit ihm abschloß, ehe er sich uns ergab. Ich mußte versprechen, daß sein Eigentum nicht angetastet werde.«
»So hat er auch alles, was dem Toten gehörte, noch bei sich stecken?«
»Jedenfalls, denn ich bin überzeugt, daß keiner meiner Krieger sich daran vergriffen hat.«
»Gut, werde nachsehen! Gehen wir!«
»Ja, gehen wir! Was ihr mit dem Kolarasi und seinem Eigentume macht, kann mich nicht kümmern; ich habe ihm nur mein Versprechen zu halten, und dabei war nicht gesagt, daß ich ihn gegen euch in Schutz nehmen soll. Seit ich ihn euch vorhin ausgeliefert habe, könnt ihr mit ihm machen, was ihr wollt, und ich habe nicht mehr mit ihm zu sprechen oder zu verkehren.«
Nach diesen Worten handelte er. Als wir aus der Schlucht kamen und das Lager erreichten, trennte er sich von uns. Es konnte uns gar nicht auffallen, daß er nicht Lust hatte, sich vor einem Manne sehen zu lassen, der sein Verbündeter gegen uns gewesen war. Krüger-Bei wurde von einigen militärischen Obliegenheiten in Anspruch genommen; wir übrigen drei suchten Melton auf. Er war streng gefesselt und außerdem an einen in die Erde gerannten Pfahl gebunden. Zwei Soldaten hielten bei ihm Wache. Er wendete, als er uns kommen sah, den Kopf zur Seite, zum Zeichen, daß er nichts von uns wissen wolle.
»Master Melton,« sagte ich, »wir kommen, um einige Fragen an Euch zu richten. Ich denke, Ihr werdet so klug sein, sie uns zu beantworten.«
Читать дальше