«Gut, gut», sagte Ravic. «Bringen Sie mir ein anderes Glas Calvados.»
«Ein anderes?» Der Kellner blickte auf das halbvolle Glas auf dem Tisch. «Wollen Sie dieses nicht erst trinken?»
«Nein. Bringen Sie mir ein anderes.» Der Kellner nahm das Glas. «Ist er nicht gut?»
«Doch. Ich will nur ein anderes haben.»
«Gut, mein Herr.»
Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger, er beobachtete jeden Menschen, der vorüberging … Er erinnerte sich an Berlin. Ein Sommerabend 1934 – das Haus der Gestapo; Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das blendende Licht nackter elektrischer Birnen; ein Tisch mit roten Flecken und Riemen zum Festschnallen; Schmerz, Qual, das fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Männer in Uniform, die sie hielten – und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte, was mit der Frau geschehen würde. Sybil wurde drei Tage später tod gefunden. ..
Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch. «Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.»
«Gut, gut. Danke.»
Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und bestellte einen anderen Calvados. Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er vor ein paar Minuten gesehen hatte – es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich, daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Er rief den Kellner und zahlte.
Er saß mit Morosow in der Katakombe.
«Du glaubst nicht, daß er es war?» fragte Morosow.
«Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das nicht mehr sicher ist.»
«Pech, daß du im Bistro warst.»
«Gespenster», sagte Ravic. «Dachte, ich wäre drüber weg.»
«Das ist man nie. Ich habe das auch gehabt. Im Anfang hauptsächlich. In den ersten fünf, sechs Jahren. Ich warte noch auf drei in Rußland. Es waren sieben. Vier sind gestorben. Zwei davon erschossen von der eigenen Partei. Ich warte jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Seit 1917. Einer von den dreien, die noch leben, ist jetzt an siebzig. Die anderen beiden um vierzig, fünfzig herum. Die werde ich hoffentlich noch kriegen. Es sind die für meinen Vater.»
Ravic sah Boris an. Er war ein Riese, aber über sechzig. «Du wirst sie kriegen», sagte er.
«Ja.»Darauf warte ich. Lebe deshalb vorsichtiger. Trinke nicht mehr so oft . Vielleicht dauert es noch eine Zeit. Ich muß kräftig sein dann. Ich will nicht schießen und nicht stechen.»
«Ich auch nicht.»
Sie saßen eine Zeitlang. «Wollen wir eine Partie Schach spielen?» fragte Morosow.
«Ja»
Sie machten zwei Spiele. Dann stand Morosow auf. «Ich muß gehen, Türen öffnen. Warum schaust du eigentlich nie mehr bei uns herein?»
«Ich weiß nicht.»
«Wie ist es mit morgen abend?»
«Morgen abend kann ich nicht. Da gehe ich essen. Ins Maxime.»
Morosow grinste. «Für einen illegalen Flüchtling treibst du dich eigentlich ziemlich frech in den elegantesten Lokalen von Paris herum.»
«Das sind die einzigen, in denen man völlig sicher ist, Boris. Wer sich wie ein Flühtlinge benimmt , wird bald erwischt»
«Stimmt. Mit wem gehst du denn?»
«Mit Kate Hegström.»
Morosow tat einen Pfiff . «Kate Hegström», sagte er. «Ist sie zurück?»
«Sie kommt morgen früh. Von Wien.»
«Gut. Dann sehe ich dich also doch später bei uns.»
«Vielleicht auch nicht.»
Morosow winkte ab. «Unmöglich! Die Scheherazade ist Kate Hegströms Hauptquartier, wenn sie in Paris ist.»
«Diesmal ist es anders. Sie kommt, um in die Klinik zu gehen. Wird in den nächsten Tagen operiert.» «Dann wird sie gerade kommen. Du verstehst nichts von Frauen.Oder willst du nicht, daß sie kommt?»
«Warum nicht?»
«Mir fällt gerade ein, daß du nicht bei uns warst, seit du mir damals die Frau geschickt hast. Joan Madou. Scheint mir doch kein reiner Zufall zu sein.»
«Unsinn. Ich weiß nicht einmal, daß sie noch bei euch ist. Konntet ihr sie gebrauchen?»
«Ja. Sie war zuerst im Chor. Jetzt hat sie eine kleine Solonummer. Zwei oder drei Lieder.»
«Hat sie sich inzwischen einigermaßen gewöhnt?»
«Natürlich. Warum nicht?»
«Sie war verdammt verzweifelt.»
«Was?» fragte Morosow und lächelte. «Ravic», erwiderte er väterlich mit einem Gesicht, in dem plötzlich alle Erfahrung der Welt waren. «Rede keinen Unsinn. Das ist ein ziemlich großes Luder.»
«Was?» sagte Ravic.
«Ein Luder. Keine Hure [2] Ein Luder. Keine Hure. – Стерва. Не потаскуха.
. Ein Luder. Wenn du ein Russe wärest, würdest du das verstehen.»
Ravic lachte. «Dann muß sie sich sehr geändert haben. Servus, Boris! »
«Wann muß ich in der Klinik sein, Ravic?» fragte Kate Hegström.
«Wann Sie wollen. Morgen, übermorgen, irgendwann. Es kommt auf einen Tag nicht an.»
Sie stand vor ihm, schmal, selbstsicher, hübsch und nicht mehr ganz jung.
Ravic hatte ihr vor zwei Jahren den Blinddarm herausgenommen. Es war seine erste Operation in Paris gewesen. Sie hatte ihm Glück gebracht. Er hatte seitdem gearbeitet und keine Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt. Sie war für ihn eine Art Glücksbringer.
«Diesmal habe ich Angst», sagte sie. «Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe Angst.»
«Das brauchen Sie nicht. Es ist eine Routinesache.»
Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Draußen lag der Hof des Hotels Lancaster. Eine mächtige alte Kastanie reckte ihre alten Arme aufwärts zum nassen Himmel. «Dieser Regen», sagte sie. «Ich bin in Wien weggefahren, und es regnete. Ich bin in Zürich aufgewacht, und es regnete. Und jetzt hier …» Sie schob die Vorhänge zurück. «Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich werde alt.»
«Das glaubt man immer, wenn man es nicht ist.»
«Ich sollte anders sein. Ich bin vor zwei Wochen geschieden worden. Ich sollte froh sein. Aber ich bin müde.
Der scharmante Faulenzer, den ich vor zwei Jahren geheiratet hatte, wurde plötzlich ein brüllender Sturmführer, der den alten Professor Bernstein Straßen waschen ließ und dabeistand und lachte. Bernstein, der ihn ein Jahr vorher von einer Nierenentzündung geheilt hatte. Angeblich, weil das Honorar zu hoch gewesen war.
«Das Honorar, das ich bezahlt hatte, nicht er.»
«Seien Sie froh, daß Sie ihn los sind.»
«Er verlangte zweihundertfünfzigtausend Schilling für die Scheidung.»
«Billig», sagte Ravic. «Alles, was man mit Geld abmachen kann, ist billig.»
«Er hat nichts bekommen.Ich habe ihm gesagt, was ich über ihn, seine Partei und seinen Führer denke – und daß ich das von nun an öffentlich tun würde. Er drohte mir mit Gestapo und Konzentrationslager. Ich habe ihn ausgelacht. Ich sei immer noch Amerikanerin und unter dem Schutz der Gesandtschaft . Mir würde nichts geschehen, aber ihm, weil er mit mir verheiratet sei.»
Sie lachte. «Daran hatte er nicht gedacht. Er machte von da an keine Schwierigkeiten mehr.»
Gesandtschaft, Schutz, Protektion, dachte Ravic. Das war wie von einem anderen Planeten. «Mich wundert, daß Bernstein noch praktizieren darf», sagte er.
«Er darf nicht mehr. Er hat mich heimlich untersucht, als ich die erste Blutung hatte. Gut, daß ich kein Kind bekommen darf. Ein Kind von einem Nazi …»
Sie schüttelte sich.
Ravic stand auf. «Ich muß jetzt gehen. Veber wird Sie nachmittags noch einmal untersuchen. Nur der Form wegen.»
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