„Nein. Aber es ist wahrscheinlich, dass sie nach der Tat hineingelegt wurde. Sie scheint mit großer Sorgfalt platziert worden zu sein. Die Zunge war zurückgeschoben. Wäre sie in seinen Mund geschoben worden als er noch lebte, hätten die Zungenmuskeln sofort dagegen gedrückt.“
Die Anwesenheit der Socke machte die ganze Sache seltsamer. Es war eine Art Merkwürdigkeit, an der Chloe die Untersuchung normalerweise aufhängen würde, weil sie sicher eine Symbolik hatte. Und wo Symbolik war, war normalerweise auch ein Motiv zu finden.
Chloe studierte die Leiche noch eine Weile und versuchte, irgendetwas zu finden, das sie in eine andere Richtung als zu der Frau lenken würde. Als klar wurde, dass es nichts zu finden gab, dankten Rhodes und Chloe Holloway und verließen den Raum.
„Glauben Sie auch, dass es die Frau war?“ fragte Rhodes als sie zum Eingang zurück gingen.
„Tue ich. Und wenn nicht als potenzieller Täter – was sie derzeit für mich ist – , dann zum Fragen, ob sie eine Idee hat, warum jemand ihm eine Socke in den Rachen schieben würde.“
Rhodes nickte zustimmend als sie den Parkplatz überquerten und ins Auto stiegen. Noch bevor sie den Parkplatz verlassen hatten, war Chloe am Telefon, um bei Kommissar Anderson den Aufenthaltsort von Sherry Luntz zu erfragen. Als sie das Telefon anhob, konnte sie den kleinen Funken Hoffnung, einen verpassten Anruf von Danielle zu finden, nicht unterdrücken.
Aber natürlich war die Hoffnung umsonst und so blieb Chloe keine andere Wahl, als das Schlimmste zu befürchten und sich in dem Fall Luntz zu vergraben.
Zuerst schien Anderson zögerlich, sie mit Sherry Luntz sprechen zu lassen. Den Polizeiberichten zu Folge, war sie emotional so geschädigt, dass sie nach der Entdeckung der Leiche zwei Mal fast ohnmächtig geworden war. Chloe blieb aber eisern. Sie hatte schon mit trauernden Witwen gearbeitet, viele von ihnen hatten Geheimnisse beschützt und so unwissentlich die Aufklärungsarbeiten behindert – manchmal bis zur Lächerlichkeit.
„Sie ist die einzige realistische Verdächtige, die wir zur Zeit haben“, argumentierte Chloe, während sie sich des Hauses Luntz näherten. „Nichts für Ungut, aber Sie können mir ihren Aufenthaltsort jetzt sagen oder ich rufe in Washington an und bekomme ihn so heraus.“
Anderson gab schließlich nach und erzählte ihnen, dass Sherry mit ihrer Familie in der Stadt wohnte. „Aber bitte“, schloss er “ich kann nicht oft genug erwähnen, wie verstört die Frau ist. Könnte nur eine von Ihnen mit ihr sprechen?“
Es war eine Strategie, die Chloe normalerweise nicht anwendete, aber die Sache war nicht wichtig genug, um sich darüber zu streiten. Außerdem könnte dann eine von ihnen Sherry Luntz besuchen und die andere könnte schon die Straße, in der die Luntzes’ wohnten, abgrasen, um Informationen von den Nachbarn zu sammeln.
Und so endete Chloe alleine etwa zwanzig Minuten später im Haus von Tamara Nelson, Sherry’s Schwester. Rhodes hatte ganz zufrieden mit der Aufgabe der Nachbarn Befragung gewirkt, also entschied Chloe sich, Sherry zu befragen. Chloe sprach nicht gerne mit frisch trauernden Menschen aber sie wussten beide, dass sie viel mitfühlender sein konnte als Rhodes. Rhodes war nicht besonders stolz auf diese Tatsache, aber akzeptierte sie.
Anderson hatte angerufen und Tamara wissen lassen, dass ein FBI Agent zu ihr unterwegs war. Als Chloe an die Tür klopfte, wurde diese fast sofort geöffnet. Beide Frauen standen in der Tür, um sie zu begrüßen und es war leicht festzustellen, welche der beiden Sherry Luntz war. Sie stand etwas hinter ihrer Schwester. Ihre roten Haare waren zerwühlt, ihre Haut, bis auf die dunklen Ringe unter den Augen, war blass vom Weinen. Die Augen selbst waren blutunterlaufen und obwohl es schien, dass sie sich jeden Moment schließen könnten, sah Chloe eine Entschlossenheit in ihnen, die Chloe davon überzeugte, dass es dauern würde, bis diese Frau Schlaf finden würde.
„Sherry Luntz?“, fragte Chloe.
Die verstrubbelte Frau nickte, aber trat nicht vor. Ihre Schwester blieb schützend vor ihr stehen.
„Ich bin Agentin Fine. Ich glaube, Kommissar Anderson hat Sie über mein Kommen informiert?“
„Hat er,“ erwiderte Tamara. „Bitte verstehen Sie es nicht falsch, aber ich werde im Raum bleiben, während Sie mit Sherry sprechen.“
„Natürlich“, entgegnete Chloe. Sie fing an, sich zu fragen, ob Sherry überhaupt etwas sagen würde. Sie sah absolut fertig aus – fast wie betäubt.
Tamara drehte sich um, und ging hinein, ohne Chloe formal aufzufordern, ihr zu folgen. Chloe tat es trotzdem, und schloss die Tür hinter sich. Tamara führte sie in ein wunderschön hergerichtetes Wohnzimmer. Ein süßlicher Geruch strömte von irgendwo her durchs Haus – irgendein Tee, vermutete Chloe.
„Ich verstehe, wie schwierig dies für Sie sein muss, Frau Luntz“, begann Chloe. „Ich werde dieses Gespräch so kurz und schmerzlos wie möglich halten.“
„Nein, ist schon in Ordnung„, sagte Sherry. Sie hatte die Stimme einer Frau, die nach einer durchzechten Nacht, nach zwölf Stunden Schlaf erwacht war. „Ich will es geklärt haben. Bitte, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht.“
Chloe schielte rüber zu Tamara, als ob sie ihre Zustimmung suchte. Die Schwester zuckte die Achseln, als wenn die Welt auf ihren Schultern läge.
„Frau Luntz, ich kenne die Details des Nachmittages, also kann ich einige davon überspringen. Was ich brauche, sind die versteckten Dinge im Leben Ihres Mannes. Hatte er Feinde? Gab es Menschen, von denen Sie glauben, dass sie ihn nicht mochten?“
„Ich habe darüber nachgedacht. Versucht, es zu begreifen.“ sagte sie. „Die einzige Person, die mir einfiel, war ein alter Geschäftsrivale, aber der lebt irgendwo in Kalifornien. Ich weiß, es hört sich an, als lobte ich meinen toten Mann, aber alle mochten Bo.“
„Hat er Probleme bei der Arbeit erwähnt?“
„Nein. Tamara hat sogar für mich seinen Chef angerufen, um herauszufinden, ob es da etwas gab, das er vor mir versteckte. Aber da war nichts.“
„Sie haben ein gemeinsames Kind, stimmts?“ fragte Chloe.
„Ja, einen Sohn, Luke. Er hat dieses Jahr auf der Universität angefangen. Er ist auch hier. Schläft, im Gästezimmer. Er ist …. einfach leer im Moment.“
„Haben Sie ihm auch diese Fragen gestellt?“, erkundigte sich Chloe.
„Nicht so direkt, aber ja. Wir haben versucht herauszufinden, wer es getan haben könnte. Ich glaube, es könnte einer dieser zufälligen Einbrüche sein, aber… es fehlt nichts. Alles ist da.“
„Ich habe gestern die Kreditkartenfirmen für Sherry angerufen“, mischte sich Tamara ein. „Alle Karten waren noch in Bos Brieftasche aber ich dachte, vielleicht war es eine Art digitaler Betrug oder so. Aber alles scheint in Ordnung. Sollte es irgendein Psychopath gewesen sein, dann ging es ihm nur ums Töten.“
„Wir haben gestern Abend alles geprüft und nochmals geprüft, Luke und ich. Wir konnten nichts finden, das wir vermissten“, warf Sherry ein.
Chloe wusste, was sie als nächstes fragen wollte, aber es war schwierig in Worte zu fassen. Sie hatte schon jetzt eine recht gute Ahnung, dass Sherry absolut nichts mit dem Mord an ihrem Mann zu tun hatte. Man konnte Tränen und Zusammenbrüche vortäuschen, aber Ohnmacht durch Trauer im Beisein der Polizei und so schlafberaubt zu sein, dass man wie ein Statist in einem Zombie Film aussah? Das war echt.
„Und ist vielleicht irgendetwas im Haus, im Garten oder auf der Veranda verrückt? Vielleicht etwas, das so aussah, als sei es nur ein kleines Stück bewegt worden?“ fragte sie. Es war ihre Art zu erfahren, ob sie vielleicht unabsichtlicher Weise die Angriffswaffe gefunden hatten.
„Uns ist nichts aufgefallen.“
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