„Keine Fingerabdrücke auf der Socke in seinem Mund?“ fragte Chloe.
„Keine. Auch drinnen keine Abdrücke. Keine Hinweise auf Einbruch…. nichts.“
Rhodes begann, die Ausdrucke von Johnson zu durchsuchen. Sie versuchte, die Papiere durch ihren Körper vor dem Regen zu schützen. „Bo Luntz, zweiundfünfzig Jahre alt, ein Kind, angestellt bei Mutual Telecom. Keine Vorstrafen. Können Sie noch etwas hinzufügen, Kommissar Anderson?“
„Nach vorläufigen Befragungen von Nachbarn und Freunden wissen wir, dass der Mann sehr beliebt war. Er war freiwilliger Feuerwehrmann, half bei Wohltätigkeitsveranstaltungen wann immer er konnte. War Assistenztrainer bei einem Amateur-Footballverein. Ich selbst habe mit fünf Leuten gesprochen und wir haben noch mindestens ein Dutzend mehr in der Akte. Der Mann war blütenweiß.“ Chloe nickte, aber sie hatte diese Geschichten schon oft gehört. Die meisten Männer konnten nach außen hin blütenweiß erscheinen, aber sie wusste, dass man nach ein wenig graben, Risse in der sauberen Fassade fand. Risse, die oft zu sehr dreckigen Geheimnissen führten.
„Haben Sie eine Idee, warum ihm eine Socke in den Hals gestopft wurde? “ erkundigte sich Chloe.
„Keine Ahnung. Wir haben die Schubladen oben durchsucht in der Annahme, wir könnten das Gegenstück finden, aber kein Glück.“
„Herr Kommissar, können wir den Namen und die Nummer des zuständigen Leichenbeschauers haben?“
„Klar“, erwiderte er, während er schon die Kontakte in seinem Telefon durchblätterte.
„Und was ist mit dem ersten Opfer?“ fragte Chloe.
„Sein Name war Richard Wells. Er lebte ungefähr zwölf Meilen von hier in der kleinen Stadt Eastbrook. Eine sehr ähnliche Nachbarschaft zu dieser hier. Die Polizei in Eastbrook bearbeitet den Fall, aber ich habe einige der Details, wenn Sie sie möchten.“
„Ja, bitte.“
„Im Großen und Ganzen eine genaue Kopie der Geschehnisse hier. Wells wurde tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden, sein Kopf mehr oder weniger zerschmettert und eine schwarze Socke im Mund. Als Personen waren die beiden aber sehr unterschiedlich. Wells wurde letztes Jahr geschieden. Es gibt Gerüchte über ein Alkoholproblem. Er arbeitete als privater Unternehmer und seine wenigen Angestellten waren die einzigen, von denen wir Informationen bekommen konnten. Seine Ex-Frau ist schon wieder verlobt und lebt in Rhode Island. Beide seiner Eltern sind tot, keine Geschwister… Keiner da, dem man tiefergehende Fragen stellen konnte.“
„Also mehr oder weniger eine Sackgasse?“ fasste Rhodes zusammen.
„Mehr oder weniger,“ bestätigte Anderson.
Chloe studierte noch einmal die Latten, die die Veranda bedeckten. Sie studierte den Blutfleck, unfähig, den Anblick des Blutes auf dem Wasserkessel ihres Vaters aus ihrer Erinnerung zu verbannen. Er festigte sich in ihr und sie fühlte sich, als träte sie aus einem warmen Haus in einen Wintersturm. Und plötzlich war ihr klar, dass sie die Sache nicht ruhen lassen konnte: Danielles Verschwinden würde sie verfolgen – Fall oder nicht. Das Schlimmste war, dass Chloe anfing, Danielle dafür zu verurteilen. Sie machte sich Sorgen, dass die verstörte Frau, die ihre Schwester mal gewesen war, wieder zum Vorschein kam.
Sollte ich sie finden, kann ich das vielleicht verhindern dachte Chloe.
Es war verstörend aber während sie weiter Bo Luntz’ Blut betrachtete, gestand sie sich ein, dass es zur Rettung ihrer Schwester, wie zur Rettung von Luntz’ Leben, viel zu spät war.
* * *
Chloe hatte die Erfahrung gemacht, dass es zwei Arten von Leichenbeschauern gab: leise und fast mürrisch bei der Arbeit, oder sehr lebendig und fast ein bisschen zu sehr an ihrer Arbeit interessiert. Die Dame, die sie im Leichenschauhaus trafen und die den Auftrag hatte, sich um Bo Luntz’ zu kümmern, gehörte zu der zweiten Sorte. Sie hieß Gerda Holloway und sie sah eher nach Single-sucht-Single Fernseh-Show als nach Arbeit mit Toten aus. Selbst Chloe musste das gute Aussehen der Frau zugeben als sie sie, Haare im Pferdeschwanz und mit Brille im Bibliothekarinnen-Stil, in der Eingangshalle begrüßte.
„Agenten Rhodes und Fine“, entgegnete Rhodes nachdem Holloway sich ihnen vorgestellt hatte.
„Kommen Sie mit nach hinten“ lud Holloway ein. „Die Leiche ist präpariert, aber sie können ihn gerne sehen, bevor ich anfange richtig zu arbeiten“.
Sie folgten ihr durch die Eingangshalle und einen langen Flur. Als sie zu dem Untersuchungsraum kamen, der Luntz“ Leiche enthielt, öffnete sie die Tür und hielt sie mit einem Lächeln auf, als wäre es für eine Essensrunde mit Freunden und nicht zur Vorbereitung auf die Besichtigung eines Mordopfers. Sie traten in den Raum und Chloe brauchte einen Moment, um sich an die hellen Lichter und die sterile Umgebung zu gewöhnen. Jedes Mal, wenn sie in einen Leichenschauraum trat, war ihr, als ob sie in eine andere Welt überging. Aber beim Anblick der Leiche kam sie immer sofort wieder in die Realität zurück.
So war es auch jetzt, mit Bo Luntz. Er lag auf dem Tisch, die leblosen Augen geschlossen. Ohne die Wunde auf der Stirn, hätte er normal ausgesehen. Holloway erlaubte den Agenten einen Moment, um sich an den Anblick zu gewöhnen, bevor sie, mit einem Tablet in der Hand, an den Tisch trat.
„Wie Sie sehen können, erlitt er einen offensichtlichen Schlag auf den Kopf.“ begann Holloway. „Leider können wir nicht sicher sagen, womit geschlagen wurde, aber in Anbetracht des Winkels, der Wundtiefe und der Art und Weise, wie der Schädel zusammengefallen ist, tippe ich auf etwas Einfaches, wie einen Stein, oder komplizierteres, wie eine Betonfigur aus dem Garten.“
„Können wir etwas über den Mörder aussagen?“ fragte Chloe.
„Nun, wie Sie sehen können, scheint die Wunde einen leichten Aufwärtswinkel zu haben. Auch das Momentum scheint in diese Richtung zu gehen. Es gibt viele mögliche Faktoren dafür, aber es ist recht sicher, dass der Mörder kleiner als sein Opfer war.“
„Den Akten zufolge war Bo Luntz sechs Fuß eins. Also sind viele Leute kleiner“, bemerkte Rhodes.
„Stimmt“, bestätigte Holloway. “Wenn Sie sich aber die Einbuchtung des Schädels ganz genau ansehen, gibt es Hinweise darauf, dass es nicht nur ein, sondern zwei Einschläge waren. Der zweite Schlag scheint etwas kräftiger gewesen zu sein, aber es war ein Schleifschlag.“
Chloe trat näher an den Tisch heran und sah genau, was Holloway meinte. Auf der linken Seite war die Delle auf Luntz’ Stirn ungefähr zwei Inches tiefer. Das Umfeld wirkte etwas dunkler, als wenn sie mit mehr Kraft als der Rest der Wunde geschlagen worden war. Chloe legte den Kopf zur Seite und versuchte, sich zu entscheiden, ob dies lediglich von einer komisch geformten Waffe hervorgerufen sein konnte.
„Meine Theorie“, fuhr Holloway fort, „ist, dass er zweimal kurz hintereinander geschlagen worden ist. Zwei schnell aufeinander folgende Schläge. Das erklärt die unglaubliche Zielsicherheit. Ein Schlag genau auf dem anderen. Aber da der zweite Schlag ihn fast verfehlt hätte, nehme ich an, dass Luntz schon im Fallen war, als der Schlag traf.“
„Und beide Schläge sind genau in der Kopfmitte“, bemerkte Chloe. „Hätte ihn jemand überrascht – vielleicht durch Anschleichen – wäre so ein perfekt platzierter Schlag unwahrscheinlich, oder?“
„Ja. Nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich.“
„Also war es jemand, von dem er wusste, dass er im Haus war?“ fragte Rhodes.
„Das ist meine Wette“, entgegnete Holloway.
Chloe dachte an die Informationen von Johnson und Anderson. Keine Anzeichen von Einbruch oder Kampf und am Hochzeitstag. Einfaches Ausschlussverfahren und Erfahrung deuteten auf die Ehefrau.
„Haben Sie in der Kehle außer der Socke noch etwas gefunden?“, fragte Chloe.
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