Sie wurden sogleich von Daiju Hiroto begrüßt, der sie in sein geräumiges Büro führte. Er wirkte wie ein Mann zwischen den Fronten – einerseits hatte er ein Projekt, das er zum Abschluss bringen musste, andererseits war er von tiefer Trauer über den Tod seines Mitarbeiters und Freundes erfüllt.
„Ich habe es heute Morgen gehört“, begann er, während er hinter seinem großen Schreibtisch Platz nahm. „Ich bin seit heute Morgen um sechs bei der Arbeit und eine unserer Mitarbeiterinnen – Katie Mayer – hat diese schlimme Nachricht überbracht. Zu dem Zeitpunkt waren fünfzehn Mitarbeiter hier, und ich habe es allen freigestellt, sich das Wochenende frei zu nehmen. Sechs von ihnen haben das Angebot angenommen, um Jack Respekt zu zollen.“
„Wären Sie nicht selbst der Vorgesetzte dieses Teams, wären Sie dann selbst gegangen?“, fragte Kate.
„Nein. Es mag egoistisch klingen, aber der Job muss zu Ende gebracht werden. Wir haben nur noch zwei Wochen bis zum Ende der Frist, und wir sind leicht in Verzug. Und die Arbeitsplätze von mehr als fünfzig Mitarbeitern sind in Gefahr, wenn wir das Projekt nicht fristgerecht zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.“
„Wer in Ihrem Team kannte Jack Ihrer Meinung nach am besten?“, fragte DeMarco.
„Wahrscheinlich ich selbst. Jack und ich haben über die letzten zehn Jahre hinweg mehrfach eng an sehr großen Projekten zusammen gearbeitet. Sie sind zusammen durch die Welt gereist, haben die Nächte durchgearbeitet und verhandelt; wir haben an Meetings teilgenommen, von denen der Rest des Teams nicht einmal etwas wusste.“
„Aber Sie haben erwähnt, dass jemand anderes zuerst von seinem Tod erfahren hat“, fragte DeMarco nach.
„Ja, Katie. Sie wohnt auch in Ashton und ist recht eng mit Jacks Ehefrau befreundet.“
Kate wollte schon etwas zu der Tatsache sagen, dass es beleidigend war, dass Hiroto selbst nicht nach Hause gegangen war und damit auch den anderen im Team, die zurückgeblieben waren, die Chance genommen hatte, zu trauern. Doch sie war sich auch bewusst, dass Männer manchmal von ihrer Arbeit getrieben waren, und sie meinte, dass es ihr nicht zustand, eine Wertung abzugeben.
„Während all der Zeit, die Sie Jack kannten, hat er da jemals Geheimnisse gehabt, von denen Sie wussten? Zum Beispiel seiner Frau gegenüber?“, fragte DeMarco.
„Nicht, dass ich wüsste. Und falls er doch welche hatte, dann war er nicht jemand, der sie mit mir hätte teilen wollen. Aber unter uns gesagt, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er Geheimnisse hatte oder ein Doppelleben führte. Er war ein Guter. Bei ihm wusste man, woran man ist.“
„Sie können sich also nicht vorstellen, warum ihn jemand umbringen wollte?“, bohrte Kate weiter.
„Nein. Das Ganze ist komplett absurd.“ Hier hielt Daiju inne und blickte durch die Glaswand, hinter der das Großraumbüro lag, in dem seine Mitarbeiter arbeiteten, auf sein Team. „Und es ist hier in New York City passiert?“, fragte er.
„So ist es. Haben Sie versucht, ihn zu erreichen, als Sie bemerkten, dass er nicht zur Arbeit erschien?“
„Oh ja, das habe ich. Mehrfach. Als ich ihn bis mittags noch immer nicht erreicht hatte, habe ich es sein lassen. Jack war immer sehr scharfsinnig, sehr smart. Wenn er mal für einige Stunden eine Auszeit brauchte – und das kam von Zeit zu Zeit vor – dann habe ich ihn sie nehmen lassen.“
„Mr. Hiroto, wir würden gern kurz mit einigen der anderen Mitarbeiter sprechen. Ist das in Ordnung?“, fragte Kate und nickte in Richtung der Glaswand.
„Ja, natürlich, bitte. Tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Und könnten Sie uns bitte die Kontaktdaten derjenigen besorgen, die heute nach Hause gegangen sind“, bat DeMarco.
„Natürlich.“
Das Großraumbüro, das Kate und DeMarco jetzt betraten, war durch schulterhohe Trennwände in einzelne Arbeitsplätze unterteilt, in denen großen Schreibtische mit Monitoren standen. Es roch nach starkem Kaffee.
Noch bevor sie auch nur mit einem der anderen Mitarbeiter gesprochen hatten, war Kate klar, dass sie das Gleiche wie zuvor zu hören bekommen würden. Wenn mehrere Personen jemanden als normal und eher schlicht bezeichneten, dann entsprach dies gewöhnlich den Tatsachen.
Innerhalb von fünfzehn Minuten hatten sie mit allen der acht anderen Mitarbeiter gesprochen, die sich noch im Büro befanden. Kate hatte Recht gehabt; alle beschrieben Jack als gutherzig, lieb und smart; er war keiner gewesen, der sich mit anderen anlegte. Und zum zweiten Mal an diesem Morgen bezeichnete jemand Jack Tucker als langweilig – im besten Sinne natürlich.
Irgendwo in Kates Hinterkopf rührte sich etwas, eine Erinnerung an einen Spruch, den sie irgendwann einmal gehört hatte. Dass man die gelangweilte Ehefrau oder den gelangweilten Ehemann besser im Auge behalten sollte – weil die Langweile sie vielleicht irgendwann durchdrehen ließ. Aber sie konnte sich einfach nicht genau an den Spruch erinnern.
Nachdem sie noch einmal in Hirotos Büro vorbeischauten, um sich die Liste mit den Namen der abwesenden Mitarbeiter geben zu lassen, verließen Kate und DeMarco das Gebäude und traten hinaus in einen wunderbaren New Yorker Samstagmorgen. Kate musste an die arme Missy denken, die an diesem Morgen mit der Last des Schicksals zu kämpfen hatte und für die das Leben wohl erst einmal nicht mehr wunderbar sein würde.
* * *
Den restlichen Vormittag verbrachten sie mit den Mitarbeitern, die das Büro morgens verlassen hatten. Es waren tränenreiche Begegnungen und einige waren richtiggehend wütend, dass ein so gutherziger Mensch wie Jack Tucker ermordet worden war. Die Begegnungen waren genau wie die mit den Mitarbeitern im Büro, wenngleich in weniger verhaltener Atmosphäre.
Kurz nach Mittag sprachen sie mit dem letzten Mitarbeiter – einem Mann namens Jerry Craft. Sie erreichten sein Haus, als er gerade in seinen Wagen stieg. Kate parkte hinter ihm und verhinderte so, dass er wegfuhr. Sie erntete dafür einen gereizten Blick. Als sie ausstiegen und auf ihn zugingen, bemerkten sie seine geröteten Augen und seinen melancholischen Ausdruck.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung“, begann Kate und zeigte ihm ihre FBI-Marke. DeMarco trat neben sie und hielt ihm auch ihre Marke hin. „Wir sind Agents Wise und DeMarco. Wir möchten gern kurz mit Ihnen über Jack Tucker sprechen.“
Der gereizte Ausdruck in Jerrys Gesicht verflüchtigte sich. Er nickte und lehnte sich gegen seinen Wagen.
„Ich wüsste nicht, was ich Ihnen erzählen könnte, was Sie nicht schon von anderen gehört haben. Ich nehme an, dass Sie schon mit Mr. Hiroto und den anderen im Büro gesprochen haben?“
„Das haben wir“, entgegnete Kate. „Aber wir wollen auch vor allem mit denen sprechen, die das Büro heute Morgen verlassen haben – was darauf hinweist, dass sie eine engere Verbindung zu Jack hatten.“
„Da bin ich nicht sicher, ob das so stimmt“, sagte Jerry. „Es waren nur einige von uns, die sich auch außerhalb der Arbeit mal gesehen haben, und Jack war normalerweise keiner von ihnen. Einige haben heute Morgen wahrscheinlich Mr. Hirotos Angebot angenommen, einfach um den Tag freizubekommen.“
„Haben Sie eine Ahnung, warum Jack normalerweise nicht mit den anderen außerhalb der Arbeit zusammentraf?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube, es gibt keinen eigentlichen Grund. In seiner Freizeit war er gern zuhause bei seiner Frau und den Kindern. Er hatte unglaublich lange Arbeitszeiten. Er sah keinen Sinn darin, mit den gleichen Leuten, die er den ganzen Tag bei der Arbeit sah, danach noch in einer Bar abzuhängen. Wissen Sie, er hat seine Familie wirklich über alles geliebt. Für Geburtstage und Jahrestage hat er sich immer extravagante Dinge für sie einfallen lassen. Hat bei der Arbeit von seinen Kinder erzählt, und wie stolz er auf sie ist.“
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