Nach einer Weile gab Kate auf und lief im Raum umher. Sie benutzte das Whiteboard im Konferenzraum, um Notizen aufzuschreiben, in der Hoffnung, etwas Schriftliches zu sehen würde ihr helfen, sich zu konzentrieren. Aber das war nicht der Fall. Keine Verbindung, keine Spuren, keine konkrete Richtung, wie sie weiter verfahren sollten.
„Du auch, was?“, fragte DeMarco. „Nichts?“
„Bisher nicht. Ich glaube, wir sollten uns an das halten, was wir haben, statt versuchen Neues zu finden. Ich glaube, wir müssen die Stofffetzen noch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Zwar hat das Labor nichts Aufschlussreiches entdeckt, aber vielleicht weist uns der Stoff an sich in eine bestimmte Richtung.“
„Ich kann dir nicht folgen“, meinte DeMarco.
„Das ist schon in Ordnung“, entgegnete Kate. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir selbst überhaupt folgen kann. Aber vielleicht wissen wir, was wir suchen, wenn wir es sehen.“
* * *
Als Kate die Müdigkeit zum ersten Mal richtig spürte, fuhr sie gerade mit DeMarco von der Polizeiwache zur Gerichtsmedizin. Es erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie seit siebenundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte, und wie irre früh ihr Arbeitstag begonnen hatte. Vor zwanzig Jahren hätte ihr das nichts ausgemacht. Aber mit ihren sechsundfünfzig Jahren lagen die Dinge inzwischen nunmal anders.
Die Fahrt zur Gerichtsmedizin dauerte nur fünf Minuten. Sie befand sich inmitten eines kleinen Netzwerkes an Gebäuden, bestehend aus der Polizeiwache, dem Gericht und dem Gefängnis. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurde sie am Fronttresen des Gerichtsmedizinisch-wissenschaftlichen Labors vorbei in das zentrale Labor geführt. Sie wurden gebeten, vorerst in der kleinen Lobby Platz zu nehmen, während der Techniker, der die Stofffetzen untersucht hatte, ausgerufen wurde.
„Glaubst du, dass der Stoff nur so eine Art Visitenkarte für den Killer ist?“
„Könnte sein. Hat vielleicht überhaupt nichts mit dem Warum des Falls zu tun. Vielleicht hat es für den Killer eine Bedeutung. So oder so, im Moment sieht es so aus, als seien die Stofffetzen – die, da bin ich mir sicher, von irgendeiner kuscheligen Decke stammen – unsere einzige echte Verbindung zu ihm.“
Dadurch wurde Kate an einen abscheulichen Fall erinnert, an dem sie in den Neunzigern mitgearbeitet hatte. Ein Mann hatte fünf Menschen umgebracht – alles seine Ex-Freundinnen. Bevor er sie erwürgte, hatte er sie gezwungen, ein Kondom zu schlucken. Am Ende stellte sich heraus, dass er dafür keinen wirklich Grund gehabt hatte, nur den, dass er es gehasst hatte, während des Sex ein Kondom zu tragen. Kate fragte sich, ob sich in diesem Fall die Stofffetzen als genauso unwichtig herausstellen würden.
Sie mussten nicht lange warten, bis ein großer, älterer Mann durch die gegenüber liegende Tür geeilt kam. „Sie sind vom FBI?“, fragte er.
„Ja, sind wir“, sagte Kate und zeigte ihren Ausweis. DeMarco tat es ihr gleich und der Mann betrachtete beide Ausweise eingehend.
„Nett Sie kennenzulernen, Agents“, sagte er. „Ich bin Will Reed, und ich habe die Untersuchungen an den Stücken Stoff vorgenommen, die bei den letzten Mordopfern gefunden wurden. Ich nehme an, deswegen sind Sie hier? Agent DeMarco, ich nehme an, Sie sind diejenige, an die ich vorhin das Bild geschickt habe?“
„Richtig“, sagte DeMarco. „Wir hoffen, Sie können uns etwas mehr über diese Stofffetzen erzählen.“
„Ich würde Ihnen ja sehr gerne helfen, aber wenn es um diese Stofffetzen geht, dann fürchte ich, dass ich nicht wirklich helfen kann. Wie es scheint, hat sich der Täter nicht nur die Mühe gemacht, die Fetzen tief in den Rachen der Opfer zu schieben, sondern ferner ist auch die Tatsache beachtlich, dass er keinerlei Spuren von sich selbst hinterlassen hat.“
„Ja, das verstehen wir“, meinte Kate. „Aber ohne konkrete physische Hinweise, auf die man sich stützen kann, hätte ich gern gewusst, ob Sie mir über den Stoff selbst sagen können.“
„Oh, damit kann ich vielleicht dienen“, sagte Reed.
„Ich bin der Meinung, dass beide Fetzen vom gleichen Ursprungsmaterial stammen“, sagte Kate. „Wahrscheinlich von einer Decke. Einer kuscheligen Decke. Wie sie für Kinder hergestellt werden.“
„Ich denke, dass kann man mit einiger Sicherheit behaupten. Bis ich den zweiten Fetzen sah, war ich mir nicht ganz sicher. Aber beide passen hundertprozentig zusammen – Farbe, Muster, Beschaffenheit, und so weiter.“
„Ist es möglich zu sagen, wie alt die Decke war?“, wollte Kate wissen.
„Ich fürchte nicht. Allerdings kann ich Ihnen sagen, woraus die Decke gemacht wurde. Und ich fand es merkwürdig, denn es ist eine unübliche Stoffkombination für eine traditionelle Decke, soweit man das sagen kann. Der Großteil der Decke besteht natürlich aus Wolle, das ist üblich. Aber bei dem zweiten Material handelt es sich um Bambuswolle.“
„Inwiefern ist das etwas anderes als herkömmliche Wolle?“ fragte Kate.
„Ich bin nicht ganz sicher“, sagte er. „Wir sehen viel Kleidung und Stoffe hier. Aber ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich mit etwas in Berührung gekommen bin, das Spuren von Bambuswolle enthielt. Es ist kein explizit rares Material, aber generell keineswegs so weit verbreitet wie herkömmliche Wolle.“
„Mit anderen Worten“, sagte DeMarco, „sollte es nicht allzu schwierig sein, Firmen ausfindig zu machen, die Bambuswolle als primäres Material verwenden?“
„Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen“, antwortete Reed. „Aber es interessiert Sie sicher, dass Bambuswolle tatsächlich oft in flauschigen Decken verwendet wird. Es ist sehr luftdurchlässig. Sie sollten sich wahrscheinlich auf etwas Teureres konzentrieren. Tatsächlich gibt es eine Firma, direkt hier vor den Toren der Stadt, die genau solche Produkte herstellt.“
„Kennen Sie den Namen dieses Herstellers?“
„Biltmore Threads. Es handelt sich um eine kleinere Firma, die fast pleitegegangen wäre, als alle anfing, online zu kaufen.“
„Können Sie uns sonst noch etwas sagen?“, bat Kate.
„Ja, aber es ist ein wenig unappetitlich. Soweit ich weiß, war der Stoff bei der Nash-Frau so tief in den Rachen gestopft, dass sie sich fast übergeben musste, selbst im Todeskampf. Wir haben Magensäure an dem Fetzen gefunden.“
Kate stellte sich vor, wie viel Gewalt man anwenden musste, um dies zu bewerkstelligen… wie weit man die eigene Hand in den Rachen des Opfers hineinstoßen musste, damit der Fetzen Stoff dort platziert war, wo man ihn schließlich gefunden hatte.
„Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Mr. Reed“, sagte Kate.
„Gerne. Lassen Sie uns nur hoffen, dass ich nicht bald einen dritten Stofffetzen zu Gesicht bekomme.“
Um zu Biltmore Threads zu gelangen, mussten Kate und DeMarco unheimlicherweise die gleiche Straße nehmen, die sie schon morgens um vier befahren hatten, auf dem Weg nach Whip Springs. Die Produktionsstätte und das Lagerhaus befanden sich an einer zweispurigen Straße am Rande des Highways. Sie standen ein wenig zurück, hinter einem Streifen verdorrten Grases, und am Rande des gleichen Waldes, der das Haus der Familie Nash auf der anderen Seite abschirmte.
So wie der Parkplatz aussah, ging es Biltmore Threads allerdings nicht so schlecht, wie Will Reed angedeutet hatte. Es schien, als arbeiteten mindestens fünfzig Leute hier, und das war nur nach der jetzigen Tageszeit beurteilt. Kate meinte, dass so eine Firma wahrscheinlich in Schichten arbeitete, was hieß, das wahrscheinlich weitere fünfzig Arbeiter später kamen, um die Nachtschicht zu übernehmen.
Sie betraten die dunkle Lobby. Die Frau, die hinter dem Empfangstresen sah, beäugte sie mit einem fragenden Blick. Es war klar, dass sich hierher nicht viele Besucher verirrten.
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