„Sie und Charlie sind also nur befreundet?“, fragte Kate.
„So ungefähr. Also, ich glaube, dass sie sich vielleicht wirklich mögen, aber nicht wirklich ein Paar sein wollten. Verstehen Sie?“
„Soweit du weißt, haben sie und Charlie noch etwas anderes getan als nur zu küssen?“
„Wenn es so war, dann hat mir Mercy nichts davon erzählt. Und sie erzählt mir alles.“
„Weißt du, ob sie vor ihren Eltern Geheimnisse hatte?“
Wieder konnte Kate an Annes Gesicht sehen, dass dem Mädchen die Frage unangenehm war. Es war kaum merklich, fast nicht auszumachen, aber Kate erkannte es, weil dies ihr bei unzähligen anderen Fällen begegnet war – vor allem, wo Teenager involviert waren. Umher flitzende Augen, unwohl auf dem Stuhl herumrutschen, zu schnelles Antworten, ohne darüber nachzudenken, oder zu langes Zögern.
„Falls es so ist, hat sie mir auch davon nichts gesagt.“
„Wie sieht es mit einem Job aus?“, fragte Kate. „Hat sie irgendwo gearbeitet?“
„Nicht in letzter Zeit. Vor ein paar Monaten hat sie ungefähr zehn Stunden pro Woche Kids aus der Middle School Nachhilfe gegeben. In Algebra, glaube ich. Aber das wurde dann nicht mehr angeboten, weil es nicht genügend Kids gab, die Interesse an der Hilfe hatten.“
„Hat ihr das Spaß gemacht?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube schon.“
„Keine Horrorgeschichten vom Nachhilfegeben?“
„Keine, von denen sie mir erzählt hat.“
„Aber du bist überzeugt, dass Mercy dir alles über ihr Leben erzählt, richtig?“
Wieder war Anne die Frage unangenehm. Kate fragte sich, dass dies vielleicht das erste Mal war, dass sie schonungslos befragt wurde – dass etwas in Frage gestellt wurde, was sie als die Wahrheit hingestellt hatte.
„Ich glaube schon“, sagte Anne. „Wir waren … wir sind beste Freundinnen. Und ich sage sind, weil sie noch lebt. Ich weiß es. Denn, wenn sie tot ist…“
Der Kommentar hing einen Moment lang im Raum. Kate sah, dass die Emotionen in Annes Gesicht echt waren. Es war klar, dass das Mädchen kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Und wenn es soweit kam, war sich Kate sicher, würden ihre Eltern sie bitten zu gehen. Das hieß, dass ihnen nicht viel Zeit blieb – und das wiederum hieß, dass Kate jetzt ihre Samthandschuhe ablegen und sie hart anfassen musste, wenn sie noch Antworten bekommen wollte.
„Anne, wir wollen dieser Sache auf den Grund gehen. Und wir gehen genau wie du davon aus, dass Mercy noch lebt. Aber, da will ich ganz ehrlich mit dir sein, in Vermisstenfällen ist die Zeit unser Feind. Je mehr Zeit verstreicht, desto kleiner die Chance, sie zu finden. Also bitte … wenn es irgendetwas gibt, womit du den Behörden von Deton gegenüber bisher nicht herausgerückt bist … dann ist es wichtig, dass du es jetzt uns sagst. Ich weiß, in einer Kleinstadt ist es wichtig, was andere denken—“
„Ich denke, das reicht“, unterbrach Mr. Pettus. Er erhob sich und schritt zur Tür. „Es gefällt mir nicht, dass Sie meiner Tochter unterstellen, dass sie Ihnen etwas verheimlicht. Und man sieht ihr doch an, dass sie mit den Nerven am Ende ist.“
„Mr. Pettus“, begann DeMarco, „wenn Anne—“
„Wir waren mehr als entgegenkommend, sie von den Behörden befragen zu lassen, aber jetzt reicht es. Bitte gehen Sie … jetzt.“
Während sie sich erhoben, tauschten Kate und DeMarco einen entmutigten Blick aus. Kate hatte ungefähr drei Schritte getan, als Annes Stimme sie innehalten ließ.
„Nein … warten Sie.“
Alle vier Erwachsenen im Raum wandten sich zu Anne um. Tränen rannen über ihre Wangen und ein ernsthafter Ausdruck lag in ihren Augen. Sie blickte kurz ihre Eltern an und wandte dann die Augen ab, als schäme sie sich.
„Was ist?“, fragte Mrs. Pettus ihre Tochter.
„Mercy hat einen Freund. Mehr oder weniger. Aber es ist nicht Charlie. Es ist dieser andere Typ … und sie hat nie jemandem von ihm erzählt, denn wenn ihre Eltern davon erfahren, drehen sie durch.“
„Wer ist es?“, fragte Kate.
„Es ist dieser Typ, der draußen Richtung Deerfield wohnt. Er ist älter … siebzehn.“
„Und sie waren ein Paar?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube nicht, dass es etwas Festes war. Sie haben sich einfach öfter gesehen. Aber wenn sie zusammen waren, glaube ich, dann … na ja, ich glaube, es ging nur um das Körperliche. Mercy gefiel es, dass dieser ältere Kerl ihr Aufmerksamkeit schenkte, verstehen Sie?“
„Und warum würden ihre Eltern das nicht gutheißen?“, fragte Kate.
„Na ja, zuerst einmal wegen des Altersunterschieds. Mercy ist fünfzehn und er ist fast achtzehn. Aber er ist ein schlimmer Finger. Er hat die High-School geschmissen und hängt mit üblen Leuten rum.“
„Wissen Sie, ob die beiden Sex gehabt haben?“, fragte Kate.
„Das hat sie mir nie erzählt. Aber ich glaube schon, denn immer, wenn ich darüber Witze gemacht und sie aufgezogen habe, ist sie ganz still geworden.“
„Anne“, sagte Mr. Pettus, „warum hast du das der Polizei nicht erzählt?“
„Weil ich nicht will, dass die Leute schlecht von Mercy denken. Sie … sie ist meine beste Freundin. Sie ist lieb und nett und … dieser Typ ist Abschaum. Ich verstehe nicht, was sie in ihm gesehen hat.“
„Wie heißt er?“, fragte Kate.
„Jeremy Branch.“
„Du sagtest, er habe die Schule abgebrochen. Weißt du, wo er arbeitet?“
„Ich glaube, er arbeitet gar nicht. Hin und wieder arbeitet er wohl in der Landschaftspflege, Bäume beschneiden und den Holzfällern zu Hand gehen. Aber Mercy sagte, dass er eigentlich nur bei seinem älteren Bruder herumsitzt und die meiste Zeit trinkt. Und ich glaube, dass er Drogen verkauft, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit.“
Anne tat Kate fast leid. Nach dem Gesichtsausdruck der Eltern zu urteilen, war es klar, dass Anne eine ernsthafte Standpauke erwartete, sobald Kate und DeMarco gegangen waren. Mit diesem Gedanken im Kopf ging Kate zu Anne herüber und setzte sich dorthin, wo ihr Vater vor einer Minute noch gesessen hatte.
„Ich weiß, das ist dir nicht leicht gefallen“, sagte Kate zu ihr. „Aber du hast das Richtige getan. Du hast uns einen Hinweis gegeben und anhand dessen können wir vielleicht der Sache auf den Grund gehen. Danke, Anne.“
Und damit nickte sie Annes Eltern kurz zu und verließ das Haus. Auf dem Weg zum Wagen zog DeMarco ihr Telefon hervor. „Weißt du, wo Deerfield liegt?“, fragte sie.
„Etwa zwanzig Minuten entfernt, noch tiefer in die Wälder hinein“, sagte Kate. „Und wenn du glaubst, dass Deton klein ist, dann hast du noch nichts gesehen.“
„Ich rufe Sheriff Barnes an und sehe zu, eine Adresse zu bekommen.“
Und genau das tat sie, sobald sie wieder im Wagen saßen. Plötzlich spürte Kate eine Welle der Energie über sich hinweg spülen. Sie hatten eine Spur, das örtliche Police Department auf ihrer Seite und den größten Teil des Tages noch vor sich. Als sie die Auffahrt der Familie Pettus‘ hinter sich ließen, konnte sie nicht umhin, sich hoffnungsvoll zu fühlen.
Obwohl Barnes genauste Angaben zu der Adresse gemacht hatte, fragte sich Kate, ob er sich vertan hatte oder ob etwas bei der Kommunikation verloren gegangen war. Fünf Minuten, nachdem sie den Ortskern von Deerfield, hinter sich gelassen hatte, erblickte sie endlich die Adresse in schwarzen Buchstaben geschrieben an einem Briefkasten an der Straße. Dahinter lagen, wie generell in Deerfield, Virginia, nichts als offene Felder und Wald.
Knapp einen halben Meter vom Briefkasten entfernt konnte sie die Umrisse dessen erkennen, was sie für eine Auffahrt hielt. Das Unkraut verdeckte fast die Zufahrt. Sie fuhr auf die Auffahrt und fand sich auf einem Schotterweg wieder, der weiter vorn in einer Lichtung mündete. Sie nahm an, dass dies der Garten war, in dem aber schon sehr lange nicht mehr gemäht worden war. Dort parkten drei Wagen, von denen man zwei komplett abschreiben konnte. Sie standen am Ende der Auffahrt.
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