„Eine Lüge?“, fragte Kate.
„Ja. Wendys Kollegin sagte, dass sie über Mercys ersten Kuss gesprochen haben. Aber Anne Pettus sagt, dass das so nicht richtig ist. Wie es scheint, liegt Mercys erster Kuss schon eine ganze Weile zurück.“
„Hat sie promiskuitiv?“
„Das hat Anne so nicht gesagt. Sie sagte nur, dass sie genau wisse, dass Mercy schon sehr viel mehr mit Jungen gemacht hat als sie nur zu küssen.“
„Hinsichtlich ihres Verschwindens, in welche Richtung weist die bisherige Beweislage?“, fragte Kate. „Dass sie entführt wurde, oder dass sie abgehauen ist?“
„Sofern Sie nicht noch etwas in dem Haus finden, gibt es bisher keinerlei Beweise, die auf eine Entführung hinweisen. Im Gegenteil, wir haben Beweise, die uns zu der Annahme verleiten, dass sie freiwillig gegangen ist.“
„Welche Art von Beweisen?“
„Anne sagt, dass Mercy sich eine kleine Summe Bargeld zusammengespart hat. Sie wusste sogar, wo Mercy das Geld aufbewahrte: ganz unten in ihrer Sockenschublade. Wir haben nachgesehen: 300 Dollar lagen dort versteckt. Das widerspricht wiederum der Hypothese, dass sie davongelaufen ist, denn sie hätte das Geld mitgenommen, richtig? Allerdings hat Mercy ihre Kreditkarte zuletzt benutzt, um damit den Tank aufzufüllen. Das war zwei bis drei Stunden, bevor die Leichen ihrer Eltern entdeckt wurden. Zwei Tage zuvor hat sie bei Target in Harrisonburg Kosmetika in der Größe gekauft, wie man sie gern mit auf Reisen nimmt: Zahnbürste, Zahnpasta, Deodorant. Die Kreditkartenaufstellung bestätigt das, ebenso Anne Pettus, mit der zusammen sie an dem Tag eingekauft hat.“
„Hat Anne sie zufällig gefragt, warum sie Kosmetika in Reisegröße kauft?“, fragte Kate.
„Ja, das hat sie. Mercy sagte, sie hätte nicht mehr viel zuhause und hasste es, sich wie ein Kind zu fühlen, dass ihre Eltern bitten musste, ihr so etwas zu kaufen.“
„Es ist nichts über einen Freund bekannt?“, fragte Kate.
„Nicht nach dem, was Anne berichtet. Und die schien so ziemlich alles über Mercy zu wissen.“
„Ich möchte mit Anne sprechen“, sagte Kate. „Meinen Sie, sie willigt ein, oder wird sie uns Steine in den Weg legen?“
„Sie wird ganz sicher einwilligen“, sagte Foster.
„Er hat recht“, fügte Barnes hinzu. „Anne hat uns sogar zwischendurch mehrfach angerufen, und fragte, ob wir neue Erkenntnisse haben. Sie ist sehr hilfsbereit. Das gilt auch für ihre Eltern, die uns mit ihr haben sprechen lassen. Wenn Sie möchten, rufe ich an und arrangiere ein Treffen.“
„Das wäre großartig“, sagte Kate.
„Sie ist ein starkes Mädchen“, sagte Foster. „Aber unter uns gesagt, ich glaube, dass sie uns etwas verheimlicht. Vielleicht nicht Großes. Ich glaube, sie will nur sicher sein, nichts Schlechtes über ihre vermisste, beste Freundin zu sagen.“
Das ist verständlich, dachte Kate.
Kate wusste aber auch, dass die Tatsache, dass die beiden die besten Freundinnen waren, Grund genug dafür war, etwas zu verheimlichen.
* * *
Es war nachvollziehbar, dass Annes Eltern ihr erlaubt hatten, von der Schule zuhause zu bleiben. Als Kate und DeMarco das Haus der Pettus‘ erreichten, das in einer Straße stand, die der der Fullers ähnelte, warteten die Eltern schon drinnen an der Haustür. Kate konnte beide durch die Glastür erkennen, als sie den Wagen auf der U-förmigen Auffahrt parkte.
Mr. und Mrs. Pettus traten auf die Veranda hinaus, um die Agents zu begrüßen. Der Vater hatte die Arme verschränkt. Ein trauriger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Die Mutter sah müde aus, mit geröteten Augen und einer erschöpften Haltung.
Nachdem sich alle vorgestellt hatten, kamen Mr. und Mrs. Pettus direkt zur Sache. Sie waren weder unhöflich noch aufdringlich, sondern einfach besorgte Eltern, die ihre Tochter davor bewahren wollten, unnötig durch die Hölle zu gehen.
„Es scheint ihr mit jedem Mal, das sie darüber redet, besser zu gehen“, sagte Mrs. Pettus. „Ich glaube, mit der Zeit wird sie mehr und mehr verstehen, dass ihre beste Freundin nicht unbedingt tot ist. Je mehr sie sich mit der Möglichkeit befasst, dass sie einfach vermisst wird, desto mehr wird sie helfen wollen.“
„Trotzdem“, fügte Mr. Pettus hinzu, „muss ich Sie bitten, die Befragung so kurz wie möglich zu halten, und ein Element der Hoffnung durchscheinen zu lassen. Wir werden uns natürlich nicht in die Befragung einschalten, aber seien Sie gewarnt, sobald wir etwas hören, dass unsere Tochter aufregt, ist Ihre Zeit mit ihr um.“
„Das ist absolut verständlich“, sagte Kate. „Und Sie haben mein Wort, dass wir behutsam vorgehen werden.“
Mr. Pettus nickte und öffnete ihnen schließlich die Haustür. Als sie eintraten, sah Kate Anne Pettus sofort. Sie saß auf der Couch und hatte ihre Hände zwischen die Knie ineinandergelegt. Wie ihre Mutter sah auch sie müde und erschöpft aus. In dem Moment wurde sich Kate bewusst, dass Mädchen im Teenager-Alter ihren besten Freundinnen sehr nahe standen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was dieses junge Mädchen gerade durchmachen musste.
„Anne“, sagte Mrs. Pettus, „dies sind die Agents, die sich angekündigt haben. Möchtest du noch immer mit ihnen sprechen?“
„Ja, Mom. Ich bin okay.“
Während Kate und DeMarco links und rechts von Anne Platz nahmen, nickten beide Eltern ihnen kurz zu. Wie Kate bemerkte, sah Anne erst dann aus, als sei ihr das alles sehr unangenehm, als sich ihre Eltern sich hinter sie stellten.
„Anne“, sagte Kate, „wir werden uns kurz fassen. Sind im Bild über alles, was du der Polizei schon erzählt hast, daher werden wir dich nicht bitten, all diese Dinge zu wiederholen. Nun ja, mit einer Ausnahme. Ich würde gern mehr über die Shopping-Tour erfahren, die du mit Mercy nach Harrisonburg unternommen hast. Mercy kaufte diverse Dinge in Reisegröße, richtig?“
„Ja. Ich fand das schon seltsam. Sie sagte, sie hätte davon nichts mehr zuhause. Zahnpasta, eine kleine Zahnbürste, Deo, solche Dinge. Ich fragte sie, warum sie sie sich selbst kaufte und nicht ihre Eltern, aber sie ist nicht darauf eingegangen.“
„Meinst du, dass sie glücklich war zuhause?“
„Ja, schon. Aber… na ja, sie ist fünfzehn. Sie liebt ihre Eltern, aber sie hasst die Gegend hier. Sie will schon aus Deton weg, seit sie zehn Jahre alt ist.“
„Hast du eine Ahnung, warum?“, fragte DeMarco.
„Es ist öde hier“, sagte Anne. Dabei warf sie ihren Eltern einen entschuldigenden Blick zu. „Ich bin ein bisschen älter als Mercy; ich bin sechszehn und habe einen Führerschein, und sie und ich fahren manchmal hierhin und dorthin. Shopping. Ins Kino. Aber man muss eine Stunde fahren, um irgendwohin zu kommen. Deton ist tot.“
„Weißt du, wo sie hinwollte?“
„Nach Palm Springs“, sagte Anne mit einem Lachen. „Sie hat eine Sendung über Palm Springs gesehen, in der die Leute dort Party gemacht haben, und fand es hübsch dort.“
„Hatte sie irgendein bestimmtes College im Auge, auf das sie gehen wollte?“
„Ich glaube nicht. Ich meine, als sie diese kleine Veranstaltung für uns in der Schule hatten, hat sie sich etwas genauer mit dem Material der UVA und Wake Forest beschäftigt. Aber … na ja, ich weiß nicht.“
„Kannst du uns irgendetwas über Charlie erzählen?“, fragte Kate. „Wir haben seinen Namen in ihrem Tagebuch entdeckt und wissen, dass sie sich zumindest nahe genug standen, um zwischen den Unterrichtsstunden einen Kuss auszutauschen. Aber die Polizei hat uns mitgeteilt, dass du sagtest, sie habe keinen Freund.“
„Nein, sie hat keinen.“
Kate merkte sofort, dass sich Annes Ton bei diesem Kommentar leicht versteifte. Auch ihre Haltung schien angespannter. Dies schien ein sensibles Thema zu sein. Aber angesichts der Tatsache, dass sie erst sechszehn war und ihre Eltern hinter standen, konnte Kate sie nicht der Lüge bezichtigen. Sie würde eine andere Strategie wählen müssen. Vielleicht umgaben ihre Freundin irgendwelche dunklen Geheimnisse, die Anne einfach nicht laut aussprechen wollte.
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