Aber Richie gestattet ihm diesen nächsten Schritt nicht, der dann einen plumpen Angriff ausgelöst hätte. Er hält den Schlägertyp am Unterarm zurück, der dicker ist als Henrys Bizeps und dicht mit rötlich goldenem Haar bewachsen. »Nein, Scotty«, sagt er. »Warte mal.«
»Ja, warte«, sagt Duncan und hört sich dabei fast ängstlich an. Er wirft Henry einen knappen Blick zu, den Henry, auch mit dreizehn schon, absurd findet. Es ist ein vorwurfsvoller Blick. Als wären es Henry und seine Freunde, die hier etwas Falsches tun.
»Was wollt ihr?«, fragt Richie Henry. »Sollen wir abhauen? Ist es das?«
Henry nickt.
»Und wenn wir gehen, was macht ihr dann? Wem erzählt ihr davon?«
Henry stellt etwas Unglaubliches an sich fest: Er ist genauso drauf und dran, auszurasten wie Scotty, der Schlägertyp. Etwas in ihm will tatsächlich eine Schlägerei provozieren, will schreien: »ALLEN! ALLEN LEUTEN!« Er weiß, dass seine Freunde ihm beistehen und nie ein Wort darüber verlieren würden, selbst wenn man sie krankenhausreif schlüge.
Aber der Junge. Der arme, kleine, weinende, zurückgebliebene Junge. Sobald die großen Jungs mit Henry, Biber und Jonesy fertig wären (und mit Pete, wenn sie ihn kriegen würden), würden sie auch den zurückgebliebenen Jungen fertig machen, und dann würden sie es wahrscheinlich nicht dabei bewenden lassen, ihm ein getrocknetes Stück Hundescheiße aufzuzwingen.
»Keinem«, sagt er. »Wir erzählen es niemandem.«
»Du lügst«, sagt Scotty. »Das ist doch ein beschissener
Lügner, Richie, schau ihn dir doch an.«
Scotty will wieder auf sie losgehen, aber Richie packt den Unterarm des großen Schlägertyps fester.
»Wenn keinem was passiert«, sagt Jonesy in erfreulich vernünftigem Ton, »gibt's auch nichts zu erzählen.«
Grenadeau wirft ihm einen Blick zu und schaut dann wieder Henry an. »Schwörst du das bei Gott?«
»Ich schwöre es bei Gott«, sagt Henry.
»Schwört ihr's alle bei Gott?«, fragt Grenadeau.
Jonesy, Biber und Pete schwören es brav bei Gott.
Grenadeau denkt für einen Augenblick, der ihnen sehr lang vorkommt, darüber nach. Dann nickt er. »Na gut. Scheiß drauf. Wir gehn.«
»Wenn sie was wollen, lauf hinten ums Gebäude rum«, sagt Henry zu Pete, ganz hastig, weil sich die großen Jungs schon in Bewegung gesetzt haben. Aber Grenadeau hat Scot-ty immer noch beim Unterarm gepackt, und Henry hält das für ein gutes Zeichen.
»Reine Zeitverschwendung«, sagt Richie Grenadeau in einem hochmütigen Ton, der Henry zum Lachen reizt... Mit Müh und Not gelingt es ihm, ernst zu bleiben. Es wäre eine schlechte Idee, in diesem Augenblick zu lachen. Es ist fast vorbei. Etwas in ihm kann das gar nicht ausstehen, andererseits zittert er fast vor Erleichterung.
»Was willst du denn überhaupt?«, fragt ihn Richie Grenadeau. »Was soll das alles?«
Henry will selber Fragen stellen - will Richie Grenadeau fragen, wie er das tun konnte, und das wäre auch nicht rhetorisch gemeint. Dieses Weinen! Mein Gott! Aber er schweigt, denn er weiß, dass alles, was er sagen könnte, dieses Arschloch nur provozieren würde, und dann würde alles von vorne losgehen.
Jetzt läuft so eine Art Tanz hier ab, der fast so aussieht wie die Tänze, die man in der ersten und zweiten Klasse lernt. Während Richie, Duncan und Scott in Richtung Auffahrt gehen (sie schlendern und geben sich Mühe, so zu tun, als gingen sie aus freien Stücken und wären nicht von ein paar kleinen Schulkindern verjagt worden), drehen sich Henry und seine Freunde zunächst so um, dass sie sie dabei im Blick behalten, und treten dann in einer Reihe rückwärts vor den weinenden Jungen, der dort in seiner Unterhose hockt, um ihn vor den Großen abzuschirmen.
An der Ecke des Gebäudes bleibt Richie stehen und schaut sich noch ein letztes Mal zu ihnen um. »Wir sehn uns wieder«, sagt er. »Entweder einzeln oder alle zusammen.«
»Ja«, pflichtet Duncan bei.
»Und dann dürft ihr die Welt durch ein Sauerstoffzelt betrachten!«, fügt Scott hinzu, und da ist Henry wieder gefähr -lieh nah dran, in Gelächter auszubrechen. Er hofft inständig, dass jetzt keiner seiner Freunde etwas sagt - es jetzt nicht noch zunichte macht -, und es sagt auch keiner was. Es kommt fast einem Wunder gleich.
Ein letzter drohender Blick von Richie, und sie sind um die Ecke verschwunden. Henry, Jonesy, Biber und Pete sind allein mit dem Jungen, der auf seinen schmutzigen Knien vor und zurück schaukelt, das schmutzige, blutige, tränenüberströmte, verständnislos blickende Gesicht zum weißen Himmel gerichtet wie das Zifferblatt einer kaputten Uhr, und alle fragen sie sich, was sie jetzt tun sollen. Mit ihm sprechen? Ihm sagen, dass alles gut sei, dass die bösen Jungs fort seien und die Gefahr vorbei? Das würde er nicht verstehen. Und dieses Weinen ist auch einfach so krass. Wie konnten die Jungs, auch wenn sie noch so fies und dumm waren, bei diesem Weinen weitermachen? Henry wird es später verstehen - oder fast -, aber in diesem Moment ist ihm das ein absolutes Rätsel.
»Ich probier mal was«, sagt Biber plötzlich.
»Ja, klar, mach«, sagt Jonesy. Seine Stimme klingt zittrig.
Der Biber geht vor und schaut sich dann zu seinen Freunden um. Es ist ein eigenartiger Blick, verschämt und trotzig und -ja, das würde Henry beschwören - auch hoffnungsvoll.
»Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe«, sagt er, »rede ich kein Wort mehr mit euch.«
»Red keinen Scheiß«, sagt Pete, und auch seine Stimme klingt zittrig. »Wenn du ihn zum Schweigen bringen kannst, dann tu's!«
Biber steht für einen Moment, wo Richie stand, als er versuchte, die Hundekacke an den Jungen zu verfüttern, und kniet sich dann hin. Henry fällt auf, dass auf den Shorts des Jungen die Figuren aus der Zeichentrickserie Scooby Doo abgebildet sind, inklusive der Mystery Machine, dem Auto von Shaggy, genau wie auf seiner Lunchbox.
Dann nimmt Biber den weinenden, fast nackten Jungen in die Arme und fängt an zu singen.
Vier Meilen noch nach Banbury Cross ... oder vielleicht auch nur noch drei. Vier Meilen noch nach Banbury Cross ... oder vielleicht auch nur - Henry rutschte erneut aus, und diesmal hatte er keine Chance, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Er war tief in Erinnerungen versunken, und ehe er daraus auftauchen konnte, flog er schon durch die Luft.
Er landete mit voller Wucht auf dem Rücken, und der Aufprall war so heftig, dass er ihm mit einem lauten, schmerzerfüllten Keuchen - »Ah!« - alle Luft aus der Lunge schlug. Schnee stob wie Puderzucker auf, und er schlug so hart mit dem Hinterkopf auf der Straße auf, dass er Sterne sah.
Er blieb für einen Moment liegen und gab eventuell gebrochenen Knochen reichlich Gelegenheit, sich zu melden. Als nichts passierte, griff er nach hinten und knuffte sein Kreuz. Schmerz, aber keine Todesqualen. Als sie mit zehn, elf Jahren den ganzen Winter über im Strawford Park Schlitten gefahren waren, hatte er schlimmere Stürze erlitten als diesen hier und war lachend wieder aufgestanden. Einmal, als Pete Moore, der Idiot, ihren Flexible Flyer steuerte und Henry hinter ihm saß, waren sie frontal gegen die große Kiefer unten am Hang, die alle Kinder Todesbaum nannten, gekracht und hatten lediglich ein paar Prellungen und gelockerte Zähne davongetragen. Das Dumme war nur, dass er seit geraumer Zeit nicht mehr zehn oder elf Jahre alt war.
»Komm hoch, Baby, dir fehlt nichts«, sagte er und setzte sich vorsichtig auf. Ein leichtes Stechen im Rücken, weiter nichts. Nur durchgerüttelt. Nichts verletzt, höchstens dein blöder Stolz, wie sie früher immer gesagt hatten. Trotzdem wollte er ein, zwei Minuten dort sitzen bleiben. Er lag gut in der Zeit und hatte sich eine Rast verdient. Und außerdem hatten die Erinnerungen ihn erschüttert. Richie Grenadeau, der blöde Richie Grenadeau, den sie, wie sich dann herausstellte, aus der Footballmannschaft rausgeschmissen hatten -das hatte mit der gebrochenen Nase gar nichts zu tun gehabt. Wir sehn uns wieder, hatte er zu ihnen gesagt, und vermutlich hatte er das auch ernst gemeint, aber die angedrohte Konfrontation fand nie statt, nein, fand nie statt. Standessen passierte etwas ganz anderes.
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